Das Orakel von Margyle
kamen.
Der Ort wirkte verlassen. Von den Schritten der Männer abgesehen war nur das unheimliche Wispern des Windes zu hören. Die einzige Bewegung kam von einer hanischen Flagge, die an einem Pfahl außerhalb der Baracken flatterte, und von einer Barackentür, die der Wind auf- und zuschlug.
Idrygon blickte sich achselzuckend um. “Vielleicht wollten sie mit dem Hinterhalt ihren Rückzug tarnen.”
“Wann habt Ihr je gehört, dass die Han sich zurückziehen?” Rath hob die Hand, damit seine Truppen anhielten. “Sie leben für den Krieg und die Eroberung.”
Idrygon dachte einen Augenblick nach. “Vielleicht wenn sie sich des Sieges sicher sind. Wer weiß, was sie jetzt tun.”
Rath konnte dem nicht widersprechen. “Wenn die Han fort wären, müssten doch einige der Gefangenen heraufkommen – zumindest die, die vom Slag noch nicht zu berauscht sind.”
“Vielleicht haben die Han ja unten Zuflucht gesucht”, mutmaßte Idrygon, “und greifen an, sobald wir versuchen, die Bergleute zu befreien.”
“Dieser verdammte Wachstumstrank!”, knurrte Rath. “Ich bin zu groß für die Minen. Aber ich habe eine Idee, wie wir den Han den Spaß verderben können.”
Er rief einen kurzen Befehl. Ein Teil seiner Krieger drängte sich um den Hauptschacht und machte einen Lärm, als wären sie im Begriff, hinabzusteigen. Inzwischen wurde eine kleine Gruppe, die mit Waffen für den Nahkampf und einem Vorrat an Traumkraut ausgestattet war, durch den Förderschacht hinuntergelassen.
Rath wartete zusammen mit denen, die sich um den Eingang zur Mine scharten, und lauschte auf die Geräusche eines Kampfes dort unten.
Endlich rief eine Stimme auf Umbrisch: “Lasst die Leiter herunter. Hier unten sind keine Han.”
Die anderen Männer sahen Rath an. Allen stand die gleiche Frage ins Gesicht geschrieben: War das eine List?
“Lasst die Leiter hinunter”, befahl er. “Sie können schließlich nur einer nach dem anderen heraufkommen.” Nur ein Todesmagier hätte gegen die oben wartende Schar eine Chance gehabt.
Etwas an der Stimme beunruhigte Rath. Sie klang hohl und leblos, dabei hätte der Bursche doch erleichtert sein müssen. Oder hatte er sich nach einem Kampf gesehnt und war nun enttäuscht, keine Gegner angetroffen zu haben?
Ein Mann kletterte die Leiter herauf. Rath erkannte in ihm einen von Idrygons vestanischen Kriegern. Er blinzelte gegen das Licht und sein Blick schweifte umher, bis er auf Rath traf. Der Mann stolperte durch die um den Mineneingang versammelte Menge, die sich teilte, um ihn durchzulassen.
“Hoheit.” Er verbeugte sich vor Rath.
“Nun, was fandest du da unten?” Der kraftlose, benommene Gesichtsausdruck des jungen Burschen gefiel ihm gar nicht.
“Tod, Hoheit. Blut. Könnt ihr es denn nicht von hier oben riechen?”
“Wessen Tod?” Hatten die Bergleute irgendwie erfahren, dass eine Befreiungsarmee nahe war, und hatten sich gegen ihre Gefangenenwächter erhoben? “Wessen Blut?”
“Das unserer Landsleute, Hoheit.” Der junge Mann presste sich die Hand vor den Mund und rannte schnell zur Seite.
In der beklemmenden Stille, die sich jetzt über den Mineneingang legte, verkündete das qualvolle Würgen unbarmherziger die Wahrheit, als es Worte hätten tun können.
“Geht hinunter und holt sie herauf”, hörte er sich befehlen. “Kein einziger Körper soll dort unten bleiben. Und bringt Wasser für das Sterberitual.”
Mehr konnten sie für diese Männer nicht mehr tun.
“Möge der Allgeber Euch Erkenntnis schenken, Delyon.” Maura versuchte die Worte beiläufig klingen zu lassen und nicht wie eine flehende Bitte. Nachdem sie eine Woche lang vergebens den Palast durchsucht hatte, versuchte Maura sich einzureden, das leere Gefühl in ihrem Magen käme vom Hunger.
“Ich hole uns etwas zu essen”, sagte sie. “Dann werde ich noch einmal einen Blick in die Frauengemächer werfen. Vielleicht weckt dort irgendetwas meine Erinnerung.”
So sehr sie sich bemühte, optimistisch zu klingen, es gelang ihr nicht. Doch Delyon schien nichts zu bemerken. Beim sanften Licht eines Grünfeuerzweigs über seine Schriftrolle gebeugt, starrte er mit gespannter Aufmerksamkeit auf die fremden Symbole.
“Seid vorsichtig”, brummte er, mehr aus Gewohnheit denn aus wahrer Besorgnis.
Maura nahm sich seine Warnung trotzdem zu Herzen. Es war verführerisch, weniger wachsam zu sein, jetzt, wo sie schon eine Weile hier waren und sie nach und nach mit dem Palast vertraut wurde. Langsam kannte
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