Das Orakel von Margyle
Schankwirts und stellte ihn wieder auf die Füße.
Der Mann mit dem tätowierten Kopf zuckte die Achseln. “Sobald Ihr wollt, Landratte. Jetzt?”
“Jetzt.” Rath ließ den Schankwirt los.
“Dann folgt mir”, meinte der Mann noch immer liebenswürdig.
Noch vor ein, zwei Monaten hätte Maura sein entgegenkommendes Benehmen beruhigt. Inzwischen aber hatte Raths Misstrauen auf sie abgefärbt. Der große Bursche drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Alle wichen vor ihm zurück. Mit Maura und Rath auf den Fersen lief er quer durch den Raum. Beim Näherkommen konnte Maura erkennen, dass sich in einer dunklen Ecke ein kleiner Alkoven befand. Der Mann zog einen Vorhang zurück. Dahinter kam eine Tür zum Vorschein. Er öffnete sie und trat ein.
Maura umklammerte Raths Hand fester. Er warf ihr mit hochgezogenen Brauen einen Blick zu, als wollte er fragen, ob sie denn eine andere Wahl hätten. “Zumindest wissen wir jetzt, dass es einen Captain Gull gibt”, meinte er und drückte beruhigend ihre Hand. “Du hast doch nicht schon den Glauben an deine Bestimmung verloren?”
“
Unsere
Bestimmung”, berichtigte ihn Maura und gab sich alle Mühe, zuversichtlicher zu klingen, als sie sich fühlte. “Geh nur voran.”
Sie griff nach hinten, um die Tür zu schließen – was mit der Faust voll Irrsinnsfarn keine ganz leichte Aufgabe war. Ein Blick zurück zeigte, dass es nicht nötig war, nachdem einige Leute sich hinter ihnen in den engen Gang drängten. Die flackernden Kerzen der Taverne beleuchteten ihre unheimlichen Gestalten von hinten.
Raths fester Griff verriet die Anspannung, unter der er stand. Sie schienen sich eine ziemlich lange Zeit durch den engen, düsteren Gang zu tasten. Mehrere Male bog er um eine Ecke und schließlich wusste Maura nicht mehr, in welche Richtung sie gingen. Würden sie irgendwo hinter der Taverne auftauchen oder unten, auf der Straße?
Plötzlich sahen sie ein Licht. Rath stolperte, im nächsten Augenblick blieb auch Mauras Fuß an einer Türschwelle hängen. Während sie ins Licht blinzelte, merkte sie, wie Rath ihre Hand losließ. Bevor sie ihre andere Hand öffnen und eine Wolke von Irrsinnsfarn in die Luft werfen konnte, schrie Rath: “Nein!”
“Falls Ihr es noch nicht bemerkt haben solltet, Landratte”, grinste ihr tätowierter Führer, “Ihr seid hier nicht in der Position, Befehle zu geben.”
Maura wusste, dass Rath sie gemeint hatte – aber das spielte keine Rolle mehr. Denn im selben Moment packte jemand ihre Hände und band sie ihr auf dem Rücken zusammen. Sie konzentrierte sich darauf, die Faust fest geschlossen zu halten, bis sich eine bessere Gelegenheit finden würde, den Farn zu benutzen.
“Na so was! Wen haben wir denn da?”, fragte eine Stimme.
Maura betrachtete den Mann, der sich von seinem Stuhl erhob. Er war schlank, etwas kleiner als sie und trug schwarze Kniehosen und Lederstiefel. Sein Hemd von der Farbe dunklen Blutes bauschte sich über seinen Armen und dem Oberkörper. Ein langer Streifen des gleichen Stoffs war um seinen Kopf gewunden und bedeckte sein Haar bis auf einen langen, schwarzen, fedrigen Haarbusch, der oben aus dem Stoff herausragte – eine Verhöhnung der Han, die ihr helles Haar oben durch die Helme zogen.
Einen Moment lang glaubte Maura, er trüge einen Pelzkragen um seine Schultern. Doch dann hob der Kragen den Kopf, starrte sie an und fauchte. Erschrocken zuckte sie zurück. Es war eine langbeinige Bergkatze mit glänzendem braunem Fell.
“Benimm dich, Abri.” Der Mann hob eine Hand, um das Tier zu streicheln. Er trug eng anliegende Lederhandschuhe, die die Finger frei ließen. Nur vier Finger, der kleinste an jeder Hand fehlte.
“Diese Landratte kommt hierher”, sagte der Tätowierte, “und hat ein Mädchen dabei, das viel zu schön für einen wie ihn ist. Sagt, er will Captain Gull sehen.”
“Wirklich?” Der kleine Mann schlenderte auf Maura zu. Als er die Hand hob, zuckte sie zurück. Doch er griff ihr nur ans Kinn und zwang sie durch leichten Druck seiner Finger, den Kopf zur Seite zu drehen.
“Sagt mir, Landratte, ist das alles, was Ihr wollt – mich
sehen?”
Er ließ Maura los und stellte sich in Positur. “Jetzt habt Ihr mich gesehen.” Er starrte den tätowierten Mann an und mit der gleichen Stimme, mit der er gebeten hätte, sie wieder hinauszubegleiten, befahl er: “Töte sie.”
“Wir wollten mehr als Euch nur sehen!” Rath warf Maura aus den Augenwinkeln einen Blick zu,
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