Das Orakel von Margyle
drohten, genauso grausam waren wie die für Fluchtversuche aus den Minen.
Eine Strickleiter entrollte sich entlang des Schiffsrumpfes. Gull kletterte hinauf, immer noch die Bergkatze um seine Schultern. Mit einem Wink forderte er Rath und Maura auf, ihm zu folgen: “Willkommen an Bord der Phantom, Landratten, das am schwersten zu fassende Schiff im ganzen Meer des Zwielichts.”
Rath hangelte sich hinter Maura die Leiter hinauf und kletterte an Deck. Dort entdeckte er Captain Gull, die Arme um Mauras Taille geschlungen, die Hüften eng an die ihren gepresst. Nachdem sie aufgewacht waren, war alles so schnell gegangen. Rath hatte gar nicht genug Zeit oder auch genug Licht gehabt, um den verlockenden Anblick zu genießen, den Mauras süße weibliche Formen in den Kniehosen und dem Hemd boten.
Gull schaute mit einem unverschämten Grinsen zu Rath hoch. “Das Mädchen ist ein wenig wackelig auf den Beinen. Wie üblich bei einer Landratte.”
“Dann werde ich sie festhalten.” Rath bemühte sich, seine Eifersucht zu verbergen. Das würde Gull nur amüsieren und Maura verärgern. “Ihr habt sicher noch viel zu tun, bevor wir lossegeln.”
“Das stimmt leider.” Der Schmuggler hob Mauras Hand und drückte provozierend lange einen Kuss darauf. “Sonst wäre ich direkt versucht, den ganzen Tag in dieser attraktiven Gesellschaft zu verbringen.”
Die Bergkatze auf Gulls Schulter ließ ein Fauchen hören und Rath hatte gut Lust, es zu erwidern. Als das Tier mit der Pfote nach Maura schlug, schreckte sie zurück, und er konnte sie in die eigenen Arme ziehen, ohne sie Gull gar zu offensichtlich zu entreißen.
“Kümmert Euch um Euer Schiff, Gull”, knurrte er, “und ich kümmere mich um meine Frau.”
Gulls dunkle Brauen schossen nach oben, als Rath “meine Frau” sagte. Dann ging er und schrie Befehle, den Anker zu lichten, Seile hochzuziehen und weitere Seemannsausdrücke, mit denen Rath nichts anfangen konnte.
Er schob Maura aus dem Weg, als Gulls Mannschaft auf dem Deck der Phantom ausschwärmte und in die Takelage der großen, dreieckigen Segel kletterte. In der Zwischenzeit zerstreute sich die kleine Flotte von Fischerbooten, die sie von der Küste hierher begleitet hatte. Eine steife Brise blähte die Segel und das Schiff begann Fahrt aufzunehmen.
“Hast du das ernst gemeint, was du eben zu Gull sagtest?”, fragte Maura. “Oder wolltest du nur, dass er mich in Ruhe lässt?”
Das klang doch nach einer guten Erklärung für das, was immer er auch gesagt hatte.
“Du erinnerst dich noch nicht einmal daran, oder?” Sie schüttelte den Kopf. “Das beantwortet meine Frage, denke ich.”
“Du meinst, dass du meine Frau seiest?” Mit einem Mal brannten Rath die Wangen. “Verzeih, wenn ich voreilig war, aber du bist … zumindest bist du dazu bestimmt. Du willst doch, nicht wahr?”
Wenn er der Wartende König war und sie die Auserkorene Königin, dann musste sie doch einverstanden sein, oder nicht? Das war doch der Teil des Ganzen, der den Rest erst erträglich machte.
“Natürlich will ich.” Maura schmiegte sich in seine Arme. “Wenn wir erst einmal die Inseln erreicht haben, sollten wir eine richtige Hochzeit feiern, mit einem der Zauberer, der unsere Verbindung segnet. Vielleicht sogar mit dem Orakel von Margyle.”
In diesem Augenblick ließ die Phantom die letzten Nebelfetzen hinter sich und glitt in eine helle, funkelnde Welt aus Weiß, Blau und Gold. Ihre Erhabenheit raubte Rath für einen Moment den Atem. Kein Wunder, dass Captain Gull und die anderen ihr Leben riskierten, um diesem Geschäft nachzugehen. Rath ahnte, dass es hier nicht nur um Reichtümer ging, sondern auch um die Abenteuer, die in der Seeluft lagen. Er schloss die Augen und atmete mehrere Male die erfrischende Luft ein. Eine Weile später näherte sich ihm ein junges Mitglied der Mannschaft. “Der Captain möchte Euch gerne das Schiff zeigen, wenn es Euch interessiert.”
Rath war mehr als interessiert. Die einzigen Wasserfahrzeuge, die er kannte, waren kleine Floße, wie jenes, mit dem er und Maura die Windle überquert hatten. Er wollte wissen, wo und wie die Phantom gebaut worden war, wie Gull und seine Mannschaft die weiten, offenen Wasserstrecken überquerten und das Schiff dazu brachten, sie dorthin zu tragen, wohin sie wollten.
“Sollen wir?”, fragte er Maura. Sie schien nicht ganz so begierig auf eine Erkundungstour zu sein wie er. Um genau zu sein, sah sie blass aus und ein wenig … grün.
Trotzdem
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