Das Orakel von Margyle
härtesten Prüfungen gewesen, die er je hatte bestehen müssen.
Einen Augenblick lang hatte er in den Augen eines der Wachhabenden Interesse aufblitzen sehen. Als er näher gekommen war, hatte Rath jeden Muskel angespannt und sich auf das Schlimmste gefasst gemacht. Doch bevor der Han ihn hatte anrufen können, war an einer anderen Stelle in der Menge eine Rauferei ausgebrochen und hatte den Wächter lange genug abgelenkt, damit Rath und Maura hinter ihm vorbeischlüpfen und mit Gull, Nax und einem anderen Mann ein Boot besteigen konnten.
“Haltet Euch im Hintergrund”, murmelte Gull. “Tut so, als kümmertet Ihr Euch um die Netze. Haltet die Köpfe gesenkt, bis wir außer Sichtweite der Küste sind.”
Er kletterte zum Bug des Schiffes und löste das Tau, mit dem es an einem Kaipfosten festgemacht war. Nax und der andere hatten auf einer breiten Bank in der Mitte des Bootes Platz genommen und begonnen, mit kräftigen rhythmischen Schlägen zwei große Ruder zu bewegen.
“Wohin wollen wir?”, fragte Rath, während sie in die neblige Dunkelheit glitten und die Lichter am Kai hinter ihnen mehr und mehr verschwammen. Vom Dunst eingehüllt konnte er hören, wie die Ruder klatschend eintauchten und Seevögel über ihnen schrien. “Wir werden doch wohl nicht den ganzen Weg bis zu den Vestanischen Inseln rudern, oder?”
Auch wenn er eine Menge Geschichten über die Inseln kannte, hatte er doch keine genaue Vorstellung davon, wie weit sie von der westlichen Küste entfernt waren.
“Landratte!” Gull brach in brüllendes Spottgelächter aus, während er sich den falschen Bart aus gebürstetem Schafsfell abnahm. “Dieses arme kleine Fischerboot würde es kaum ein oder zwei Meilen weit schaffen. Deswegen erlauben uns die Han ja nicht, mit etwas Größerem zum Fischen hinauszufahren.”
Ohne weitere Erklärungen abzugeben, fuhr er fort, sich seiner Maske zu entledigen. Rath warf Maura aus den Augenwinkeln einen Blick zu. Ob sie wohl erriet, was Gull ihnen verschwieg?
Sie zuckte nur die Achseln und murmelte: “Wir werden es früh genug herausfinden, denke ich.”
Das stimmte, aber Rath mochte Überraschungen nicht sonderlich. Was würde der Captain tun, um den Erlass der Han zu unterlaufen, der die Seeleute eng an die Küste band? Nach und nach fielen ihm etliche Möglichkeiten ein. In der Zwischenzeit schien der Nebel nicht mehr so dicht zu sein wie bei ihrer Abfahrt. In ihrem Rücken erhellte die Dämmerung den Himmel für einen neuen Tag.
“Macht langsam, Jungs”, befahl Gull seinen Ruderern, während er angestrengt in den Nebel spähte. “Wir sind nahe dran.”
Wie als Antwort auf seine Worte erschien etwas Großes und Dunkles im Nebel vor ihnen. Jemand rief sie an und Gull bellte eine Antwort zurück. Rath verstand keinen von beiden. Es klang ein wenig wie die alte umbrische Sprache Twara, von der Maura ihn ein paar Worte gelehrt hatte.
Jetzt war ihm klar, was da vor sich ging, und er schimpfte sich einen Narren, dass er nicht früher darauf gekommen war. “Sie müssen in einer geheimen Bucht ein seetüchtiges Schiff vor Anker liegen haben”, flüsterte er Maura zu. “Und mit den kleinen Fischerbooten segeln sie zu ihm hinaus.”
Gull ließ einen Ton vernehmen, der zwischen Kichern und Grunzen lag. “Ganz schön schlau … für eine Landratte. Nach all den Jahren haben die Han es immer noch nicht herausgefunden. Glaubt mir, wir halten die örtliche Garnison so auf Trab, dass die Offiziere keine Lust haben, auch nur einen Tag länger an der Küste zu bleiben, als sie müssen. Bevor sie unsere kleine Machenschaft erraten, sind sie schon wieder zurück in Venard oder jenseits des Gebirges, wo die Einheimischen nicht so viel Ärger machen.”
Vielleicht ärgerte sich Maura über den verächtlichen Ton, in dem der Schmuggler über die Gegend sprach, die einmal ihre Heimat gewesen war. Rath bemerkte jedenfalls einen scharfen Ton in ihrer Stimme, als sie Gull fragte: “Werden die Kaiwächter nicht misstrauisch, wenn die kleinen Boote des Abends nicht zurückkehren?”
Jemand an Deck des Schiffes warf ein Tau herunter, das Gull auffing und am Boot festband. “Keine Angst, Mädchen, wir sorgen schon dafür, dass des Abends die gleiche Anzahl zurückkehrt, die des Morgens losgesegelt ist. Und mit einem guten Fang dazu. Das ist alles, was die Han interessiert.”
Widerstrebend begann Rath so etwas wie Hochachtung für die Schmuggler von Duskport zu empfinden. Er wusste, dass die Strafen, die ihnen
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