Das Orakel von Margyle
sich der Pfad. Welchen Weg sollte sie jetzt nehmen? Sie blickte die Abzweigungen entlang, so weit sie sehen konnte, doch beide machten schon nach wenigen Metern eine Kurve. Und das Orakel war bereits außer Sichtweite.
“Hallo!”, rief Maura. “Welchen Weg soll ich gehen?”
Es kam keine Antwort, doch aus der Ferne hörte sie ein Lachen. Der Pfad zu ihrer Rechten schien in diese Richtung zu führen, also folgte Maura ihm und beschwerte sich dabei leise über rücksichtslose Gastgeberinnen.
Der Pfad wand sich wie ein komplizierter Irrgarten den Hügel hinauf, mit Windungen, Verzweigungen, Abzweigungen, die wieder zu ihm zurückführten und manchmal auch in einer Sackgasse endeten. Würde sie je den Weg zum Gipfel finden? Maura dachte daran, umzukehren oder sich hinzusetzen und nicht zu rühren, bis dieser ungezogene kleine Frechdachs von einem Kind zurückkommen und nach ihr schauen würde. Sie machte eine kleine Rast, doch bald langweilte sie das Warten und sie marschierte wieder los. Wenn sie sich sicher gewesen wäre, den Weg zurück zur Hütte zu finden, hätte sie vielleicht aufgegeben. Doch in der Zwischenzeit hatte sie bereits zu viele Abzweigungen hinter sich gelassen und war hoffnungslos verwirrt.
So ging sie weiter. Je näher sie dem Gipfel kam, desto weniger Raum gab es für Wegverzweigungen. Wenn sie weiterging, musste sie irgendwann oben ankommen. Und so war es. Mit wunden Füßen, außer Atem und sehr aufgebracht, erreichte sie ihr Ziel.
Das Orakel stand in etwas, das aussah wie ein kleines Haus ohne Mauern – kräftige Stämme hielten ein Dach. Erst als sie schon ziemlich nahe war, erkannte Maura, dass es sich um Bäume handelte, deren Äste oben zusammentrafen und sich dann nach innen wanden und miteinander verflochten. So schafften sie ein mit großen Blättern bedecktes Dach.
Aus einem winzigen Brunnenstein neben dem kleinen Baumhaus sprudelte ein Springbrunnen. Eine sanfte Brise wehte und verbreitete den frischen, süßen Duft von Blumen. Als Maura bei dem Orakel ankam, war der gröbste Ärger durch den Frieden und die Schönheit der Umgebung verflogen. Und dann begriff sie.
“Ihr habt mich bewusst zurückgelassen, nicht wahr?”, fragte sie das Orakel.
Das Kind nickte ernst. “Es tut mir leid. Ich weiß, es ist verwirrend und ermüdend. Dies war die erste Lektion, die Namma mir erteilte, als ich alt genug war, um sie zu verstehen.” Es deutete auf den Brunnen. “Ihr müsst durstig sein. Trinkt etwas. Es wird die lange Klettertour lohnend erscheinen lassen.”
Maura blickte sich auf der Lichtung um. “Es hat sich jetzt schon gelohnt. Aber Ihr habt recht. Ich bin durstig.” Mit den hohlen Händen schöpfte sie Wasser an ihre Lippen und trank. Das Orakel hatte die Wahrheit gesprochen, das Wasser war kühl, frisch und herrlich.
“Namma sagte mir, dass der Weg durch den Wald unserem Schicksal ähnelt”, erklärte das Orakel, während Maura trank. “Wir wissen nicht, welchen Weg wir nehmen sollen, und wir können viele falsche Abzweigungen gehen.”
Maura nickte. Der Ärger, den sie während ihrer Wegsuche zum Gipfel verspürt hatte, spiegelte ihre Gefühle wider, die sie während ihrer Suche empfunden hatte.
“Gegen Euren Willen und ohne Euer eigenes Bemühen konntet Ihr den richtigen Weg nicht finden”, fuhr das Orakel fort. “Und Ihr musstet oft eine Wahl treffen. Etliche Male entferntet Ihr Euch deswegen vom Hügel, etliche Male landetet Ihr in einer Sackgasse. Wenn Ihr zu mutlos geworden wärt, um weiterzumachen, hättet Ihr den Gipfel nie erreicht.”
Nachdem Maura getrunken hatte, bat das Orakel sie, unter dem Baldachin aus Blättern Platz zu nehmen. “Habt Ihr gemerkt, dass einige der Wege wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückführten?”
Maura nickte.
“Dieser Pfad mag diejenigen, die ihn zum ersten Mal gehen, verwirren.” Das Orakel tätschelte Mauras Hand. “Aber für solche, die nicht aufhören, es zu versuchen, gibt es gar nicht so viele Fehlentscheidungen, wie es zuerst scheinen mag.”
Aber es gab falsche Entscheidungen – und Maura konnte sich nicht aus der Verantwortung schleichen. Wieder suchte das Schreckgespenst des Scheiterns sie heim. Andere vor ihr waren gescheitert und sie ahnte, je näher sie und Rath dem Ziel kamen, desto häufiger würden sie Gelegenheit bekommen, einen Fehler zu machen.
Auch schlich sich ein dunkles und verführerisches Flüstern in ihre Gedanken ein: Wenn sie und Rath ihre Bestimmung nicht erfüllten, würden nach ihnen
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