Das Orakel von Margyle
Persönlichkeit mussten die Inseln wie ein luxuriöses Gefängnis vorkommen.
“Du sagtest
zuerst.
Was hat deine Meinung geändert?”
“Etwas, das Delyon mir erzählte.” Maura tunkte den Finger in ein winziges, fein gearbeitetes Tontöpfchen und betupfte Nacken und Handgelenke mit ein, zwei Tropfen parfümiertem Öl. “Er sagte, ihre Eltern hätten ihn und seinen Bruder auf das letzte umbrische Schiff gebracht, damit sie vom Festland fliehen konnten. Die Jungen wurden hier von ihren Großeltern aufgezogen, die beide Mitglieder im Rat waren. Erst viele Jahre später fanden sie heraus, dass ihre Eltern von den Han getötet worden waren.”
Natürlich hatte er schon viel schlimmere Geschichten darüber gehört, was umbrischen Kindern nach der hanischen Eroberung zugestoßen war. Idrygon und Delyon hatten sich immerhin in Sicherheit bringen können und waren von Menschen aufgezogen worden, die gut für sie sorgten.
“Ich muss gestehen”, sagte er, “ich habe mich getäuscht, als ich dachte, den Inselbewohnern würde durch die Han kein Leid zustoßen. Ich denke, manchmal ist es schlimmer, zu wissen, dass ein anderer grausam behandelt wird und man ihm nicht helfen kann, als selbst die Wunden einzustecken.”
“Du bist ein kluger Mann, Rath Talward.” Maura nahm seinen Arm. “Jetzt gehen wir besser zum Abendessen, bevor Idrygon noch einen Suchtrupp nach uns aussendet. Delyon sagte mir, dass heute Abend wichtige Gäste mit uns dinieren werden.”
“Delyon erzählt dir eine Menge interessanter Sachen, nicht wahr?”
Maura schien seinen Unterton nicht zu bemerken. “Von irgendjemandem muss ich die Neuigkeiten doch erfahren, und Idrygons Frau macht immer so einen beschäftigten Eindruck, dass ich Angst habe, sie mit Fragen nur aufzuhalten.”
Als sie auf die breite, elegante Galerie hinaustraten, die zwischen zwei Reihen von Schlafzimmern verlief, konnte Rath sehen, dass im Innenhof bereits etliche Personen versammelt waren. Er erkannte einige Ratsmitglieder.
Während sie auf die Gesellschaft zugingen, schmiegte Maura sich enger an ihn und flüsterte: “Was Delyons Informationen betrifft, gibt es allerdings einen Nachteil.”
Er warf ihr lächelnd einen Blick von der Seite zu und war wieder einmal tief berührt von ihrer zarten Schönheit. “Und was könnte das sein?”
Maura schürzte die Lippen. “Die Hälfte der Zeit scheint er selbst nicht zu wissen, was vor sich geht.”
Das schallende Gelächter blieb Rath im Hals stecken, als er sah, dass die furchterregende Madame Verise ihnen zunickte. War das ein gutes Zeichen? Allem Anschein nach, denn Idrygon erschien neben der alten Dame und sah fröhlicher aus denn je. In jeder Hand hielt er einen Kelch. “Wir haben Grund zu feiern, Hoheiten! Madame Verise informierte mich, dass das Orakel erklärte, Ihr seid wirklich der Wartende König und die Auserkorene Königin von Umbria.”
So war dieses Nachtmahl also eine Feier. Rath blickte sich nach den anderen Gästen um. Falls er sich nicht völlig täuschte, gehörten sie der Gruppe an, von der Idrygon sich Unterstützung erhoffte.
“Der Allgeber geht seltsame Wege.” Madame Verise musterte ihn von oben bis unten und schüttelte den Kopf. “Zu denken, dass König Elzabans Geist in dem Körper eines Gesetzlosen steckt.”
Der hohe, steife Kragen seiner Tunika machte ihm wie immer das Atmen schwer. Er bemühte sich, eine Erwiderung zu formulieren, die ihm nicht im Halse stecken bleiben würde. Doch dann sagte Maura mit der ruhigen Würde, die zu einer Königin passte: “Wenn man das augenblickliche Gesetz dieses Landes betrachtet, Madame, ist es da nicht besser, dass seine Hoheit außerhalb dieses Gesetzes stand?”
Rath unterdrückte ein Grinsen und musste daran denken, wie er ihr kurz nach ihrem ersten Zusammentreffen diese Worte entgegengeschleudert hatte. Dass sie sich nach all der Zeit an sie erinnerte und sie in diesem entscheidenden Moment zu seiner Verteidigung aufrief, ließ eine Welle der Liebe in seinem Herzen aufsteigen.
“Nun, Hoheit …” Idrygons dunkle Augen blitzten. Es war deutlich zu erkennen, dass er diese für ihn so wichtige Allianz durch nichts gefährdet sehen wollte.
“Nein, Lord Idrygon.” Madame Verise machte mit ihrer zarten, welken Hand eine ablehnende Geste. “Ihre Hoheit hat recht. Gesetzlose, Schmuggler und ihresgleichen sind die Einzigen, die in unserem besetzten Land noch den Geist des Widerstands am Leben erhalten. Vielleicht passt es sehr gut, dass König
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