Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
wenn man ehrlich sein wollte, zwang Kehlweiler ihn zu nichts. Er hatte etwas vorgeschlagen und war nicht beleidigt gewesen, als Marc abgelehnt hatte. Im Grunde hinderte ihn niemand daran, seine Untersuchung über die Scheunen von Saint-Amand fortzuführen, niemand.
    Niemand außer dem Hund. Niemand außer dem Knochen. Niemand außer der Vorstellung von einer Frau am Ende des Knochens. Niemand außer der Vorstellung von einem Mord. Niemand außer dem Gesicht von Kehlweiler. Irgend etwas Überzeugendes in seinen Augen, etwas Direktes, Klares, auch Schmerzliches.
    Nun ja, jeder hat sein Leid, und sein eigenes war dem von Kehlweiler gewiß ebenbürtig. Jedem sein Leid, jedem seine Suche, jedem seine Akten.
    Sicher, als er sich in den Fall Simeonidis gestürzt hatte, hatte ihm das nicht geschadet. Man kann seine Suche und seine Akten mit denen der anderen mischen, ohne sich dabei aufzugeben. Ja, vielleicht, ganz sicher, aber es war nicht sein Job. Punkt, fertig.
    Vor Wut ließ Marc seinen Stuhl umkippen, als er aufstand. Er schleuderte die Lupe auf den Papierstapel und schnappte seine Jacke. Eine halbe Stunde später betrat er den Archivbunker, und die alte Marthe war da, wie er gehofft hatte.
    »Marthe, wissen Sie, wo Bank 102 ist?«
    »Sind Sie berechtigt, das zu erfahren? Es sind nämlich nicht meine Bänke!«
    »Mein Gott!« rief Marc. »Immerhin bin ich der Neffe von Vandoosler, und Kehlweiler läßt mich bei sich arbeiten. Also? Reicht das nicht?«
    »Schon gut, regen Sie sich nicht auf«, erwiderte Marthe. »Ich hab das gesagt, um zu spielen.«
    Mit lauter Stimme erklärte sie ihm die Lage von Bank 102. Eine Viertelstunde später war Marc in Sichtweite des Baumgitters. Halb sieben, es war bereits dunkel. Vom Ende der Place de la Contrescarpe sah er, wie Kehlweiler auf der Bank saß. Vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Knien, saß er und rauchte eine Zigarette. Marc beobachtete ihn ein paar Minuten. Seine wenigen Bewegungen waren langsam. Wieder war Marc unentschlossen, wußte nicht, war er Besiegter oder Sieger und sollte man überhaupt in solchen Kategorien denken. Er wich zurück. Er beobachtete Kehlweiler, wie er seine Zigarette ausdrückte, sich dann mit den Händen durchs Haar fuhr, ganz langsam, als ob er seinen Kopf sehr fest zusammenpressen würde. So hielt er ihn mehrere Sekunden lang, dann fielen beide Hände auf die Knie zurück, und er verharrte, den Blick zu Boden gerichtet. Dieser Ablauf von stillen Gesten brachte die Entscheidung. Marc ging zur Bank und setzte sich auf das äußerste Ende, die Stiefel von sich gestreckt. Ein, zwei Minuten lang sagte niemand ein Wort. Kehlweiler hatte den Kopf nicht wieder erhoben, aber Marc war sicher, daß er ihn erkannt hatte.
    »Du weißt noch, daß es bei der Sache keinen Sou zu verdienen gibt?« fragte Kehlweiler schließlich.
    »Weiß ich noch.«
    »Vielleicht hast du anderes zu tun?«
    »Das ganz bestimmt.«
    »Ich auch.«
    Es herrschte erneut Schweigen. Wenn man redete, entstanden kleine Wölkchen. Was konnte man hier nur frieren, verdammt.
    »Du weißt noch, daß es vielleicht ein Unfall ist, ein Zusammentreffen mehrerer Umstände?«
    »Ich weiß noch alles.«
    »Sieh dir die Liste an. Ich habe schon zwölf Personen. Neun Männer, drei Frauen. Die zu kleinen und die zu großen Hunde lasse ich beiseite. Meinem Gefühl nach kam das von einem mittleren Hund.«
    Marc ging die Liste durch. Kurze Beschreibung, Alter, Aussehen. Er las sie noch mehrmals.
    »Ich bin müde und habe Hunger«, sagte Kehlweiler. »Könntest du mich für ein paar Stunden vertreten?«
    Marc nickte und gab Kehlweiler die Liste zurück.
    »Behalte sie, du wirst sie heute abend brauchen. Ich habe noch zwei Bier, willst du eins?«
    Schweigend tranken sie das Bier.
    »Siehst du den Kerl, der da kommt, da hinten, ein Stückchen weiter rechts? Nein, schau nicht so direkt hin, mehr von unten. Siehst du ihn?«
    »Ja, und?«
    »Dieser Typ ist bösartig, ein ehemaliger Folterer und wahrscheinlich noch mehr als das. Ein Ultrareaktionärer. Weißt du, wo er seit bald einer Woche hingeht? Schau nicht hin, verdammt, steck deine Nase ins Bier.«
    Marc gehorchte. Er hatte seine Augen auf den Hals der kleinen Flasche fixiert. Er fand es nicht leicht, von unten zu sehen, bei Dunkelheit schon gar nicht. Eigentlich sah er gar nichts. Er hörte Kehlweilers Stimme, die über seinem Kopf flüsterte.
    »Er geht in den zweiten Stock des Gebäudes gegenüber. In dem wohnt der Neffe eines Abgeordneten, der seinen

Weitere Kostenlose Bücher