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Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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in den Händen, die Augen zu Boden gerichtet.
    »Was ist deine Mutter? Französin?« fragte er in gleichgültigem Tonfall.
    Gleichzeitig dachte er: Es reicht, laß ihn in Ruhe, was geht dich das an?
    »Ja, ich habe immer hier gelebt.«
    Marc nickte. Er drehte und drehte die kleine Flasche zwischen den Handballen, während er starr auf den Bürgersteig sah.
    »Bist du Elsässer? Ist dein Vater Elsässer?«
    »Marc«, seufzte Kehlweiler, »mach dich nicht dümmer, als du bist. Man nennt mich ›den Deutschen‹. Genügt dir das? Jetzt sammle dich wieder, da kommt ein Hund.«
    Kehlweiler ging, und Marc nahm Liste und Bleistift. »Mittelgroßer Hund, ich weiß nicht, welche Rasse, ich habe keine Ahnung von Hunden, sie nerven mich, schwarz, mit weißen Flecken, Bastard. Mann, etwa sechzig, schütteres Haar, dicke Ohren, von der Arbeit abgestumpft, sieht aus wie ein Kretin, nein, nicht wie ein Kretin, kommt aus der Rue Blainville, ohne Krawatte, schleppender Gang, brauner Mantel, schwarzer Schal, der Hund macht seinen Kram, drei Meter vom Baumgitter entfernt, eigentlich ist es eine Hündin, geht weiter in die andere Richtung, nein, betritt das Café, ich warte, bis er wieder rauskommt, ich werde nachsehen, was er trinkt, ich gehe auch was trinken.«
    Marc stellte sich an die Theke. Der Mann mit dem mittelgroßen Hund trank einen Ricard. Er redete über dies und das, nichts Denkwürdiges, aber immerhin, Marc schrieb auf. Wenn man schon irgendwas x-beliebiges macht, dann wenigstens richtig. Kehlweiler wäre zufrieden, er würde alle kleinen Einzelheiten bekommen. »Der Deutsche« … geboren 1945, französische Mutter, deutscher Vater. Er hatte es wissen wollen, nun, jetzt wußte er es. Nicht alles, aber er würde Louis nicht quälen, um die Fortsetzung zu erfahren, er würde nicht fragen, ob sein Vater Nazi gewesen sei, ob sein Vater umgebracht worden oder aber zurückgegangen sei über den Rhein, nicht fragen, ob seine Mutter bei der Befreiung geschoren worden sei, er würde keine Fragen mehr stellen. Die Haare sind wieder gewachsen, das Kind ist großgeworden, er würde nicht fragen, warum sich die Mutter an den Wehrmachtsoldaten gebunden hatte. Er würde keine Fragen mehr stellen. Das Kind ist großgeworden, es trägt den Namen des Soldaten. Und seitdem rennt es. Marc fuhr sich mit dem Stift über die Hand, das kitzelte. Warum mußte er ihn derart nerven? Sicher nervten ihn alle damit, und er hatte sich verhalten wie alle, nicht besser. Bloß kein Wort davon zu Lucien. Lucien wühlte zwar nur im Ersten Weltkrieg, aber immerhin.
    Jetzt wußte er Bescheid, und er wußte nicht mehr, was er mit dem, was er wußte, tun sollte. Gut, fünfzig Jahre, das war vorbei, beendet. Für Kehlweiler natürlich würde nie irgend etwas beendet sein. Das erklärte manches, seine Arbeit, seinen Hang zu Verfolgungen, seine ständige Bewegung, seine Kunst vielleicht.
    Marc nahm seinen Platz auf der Bank wieder ein. Seltsamerweise hatte sein Onkel ihm nichts von all dem erzählt. Sein Onkel war geschwätzig, was Lappalien anging, und verschwiegen bei den wichtigen Dingen. Er hatte nicht gesagt, daß man Kehlweiler »den Deutschen« nannte, er hatte gesagt, er komme von nirgendwo.
    Marc nahm seinen Zettel mit der Hundebeschreibung und radierte sorgfältig das Wort »Bastard« aus. Einfach so, das war besser. Wenn man nicht aufpaßt, schreibt man lauter Mist.
    Gegen halb zwölf kam Kehlweiler auf den Platz zurück. Marc war vier Bier trinken gewesen und hatte vier mittelgroße Hunde registriert. Er sah, wie Kehlweiler zunächst den Journalisten wachrüttelte, der auf der anderen Bank vor sich hm döste, Vincent, der Beauftragte für den ultrareaktionären Folterer. Natürlich, es ist ja schicker, einen Folterer zu überwachen als einen Haufen Hundescheiße. Also fing Kehlweiler bei Vincent an, und er, der auf der 102 erfror, konnte verrecken. Er sah, wie sie sich eine ganze Weile unterhielten. Marc fühlte sich gekränkt. Kaum, nur eine Verstimmung, die sich in dumpfe Irritation verwandelte, ganz normal. Kehlweiler kam, um seine Bänke zu inspizieren, wie ein Lehnsherr, der seine Ländereien und seine Leibeigenen besichtigt. Für wen hielt sich dieser Typ? Für Hugues de Saint-Amand en-Puisaye? Seine dunkle, tragische Ankunft in der Welt hatte ihn größenwahnsinnig gemacht, das war’s, und Marc, der sich beim ersten Anflug eines Gefühls von Knechtschaft aufregte, wie immer sie aussah und woher sie auch kommen mochte, hatte nicht die Absicht,

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