Das Orakel von Port-nicolas
Kehlweiler im Grunde ein einigermaßen einsamer Typ. Das wäre traurig. Aber es würde ihn trösten. Dann wäre er nicht der einzige, der nicht fand, der es nicht schaffte, der bei diesen Liebesgeschichten immer wieder auf die Schnauze fiel. Es gibt nichts Schlimmeres als eine kaputte Liebe, um zu verhindern, daß man ordentlich an mittelalterliche Scheunen denkt. Das zerstört die Arbeit, ganz klar. Und die Liebe gibt es trotzdem, da braucht man nicht das Gegenteil zu beschwören. Im Augenblick liebte er niemanden, und niemand liebte ihn, so hatte er zumindest seine Ruhe, das mußte man nutzen.
Marc ging mit seinem Tablett zurück in den zweiten Stock. Er nahm wieder Bleistift und eine Lupe zur Hand, weil die Akten ziemlich schwer zu entziffern waren. Natürlich waren es Kopien, und das machte die Sache nicht besser. Im Jahr 1245 übrigens hätten sie sich nicht um einen Hundehaufen geschert, nicht einmal mit einem Knochen drin. Das heißt, so sicher war das nun auch nicht. 1245 war die Justiz schließlich wer. Und im Grunde … doch ja, sie hätten sich damit beschäftigt, wenn sie gewußt hätten, daß das ein menschlicher Knochen war, wenn sie vermutet hätten, daß es einen Mord gegeben hatte. Natürlich hätten sie sich damit beschäftigt. Man hätte den Fall sogar der Feudalgerichtsbarkeit von Hugues übergeben, dem Seigneur von Saint-Amand en-Puisaye. Und was hätte Hugues getan?
O.k. gut, wie auch immer, das war nicht das Thema.
Kein einziger Hundehaufen war in den Scheunen des Seigneurs vermerkt, bringen wir nicht alles durcheinander. Draußen regnete es. Vielleicht saß Kehlweiler noch immer auf seiner Bank, seitdem er ihn vorhin dort verlassen hatte. Nein, er hatte die Bank sicher gewechselt und am Beobachtungspunkt 102 mit dem Baumgitter Platz genommen. Wirklich, er sollte dem Paten ein paar Fragen zu dem Typen stellen.
Marc transkribierte zehn Zeilen und trank einen Schluck Tee. Das Zimmer war nicht sehr warm, der Tee tat gut. Wenn er erst für die Bibliothek arbeiten würde, könnte er bald einen zweiten elektrischen Heizofen aufstellen. Außerdem war bei dem, was Kehlweiler ihm vorschlug, nichts zu gewinnen. Keinen Sou, hatte er gesagt. Und er, Marc, mußte für Geld sorgen und konnte nicht den Mann spielen, der irgendwas hinterherrennt. Stimmt, Kehlweiler würde Mühe haben, ganz allein die Spur der Gassigänger zu verfolgen, schon gar mit seinem steifen Knie, aber das war seine Sache. Marcs Sache war es, den Seigneur von Saint-Amand en-Puisaye zu verfolgen, und das würde er tun. In drei Wochen war er gut vorangekommen, er hatte ein Viertel aller Pächter der Ländereien identifiziert. Bei der Arbeit war er immer sehr schnell gewesen. Außer natürlich, wenn er sie unterbrach. Kehlweiler hatte das übrigens bemerkt. Verdammter Kehlweiler, verdammte Frauen und verdammter Tee, der nach Staub schmeckte.
Es stimmte, vielleicht gab es irgendwo einen Mörder, einen Mörder, der nie gesucht würde. Wie viele andere auch, na und? Was ging ihn das an, wenn ein Kerl im Affekt eine Frau umgebracht hatte?
Mein Gott, dieser Schreiber der Rechnungsbücher von Saint-Amand hatte sich zwar Mühe gegeben, aber er hatte eine Handschrift wie ein Schwein. Wäre er Hugues gewesen, hätte er den Buchhalter gewechselt. Seine os und as waren nicht zu unterscheiden. Marc nahm die Lupe. Dieser Fall von Kehlweiler war nicht so wie der Fall mit Sophia Simeonidis. Um den hatte er sich damals gekümmert, weil er nicht anders konnte, weil sie seine Nachbarin gewesen war, weil er sie mochte und weil der Mord eine miese, vorsätzliche Sache gewesen war. Widerlich, er mochte nicht mehr daran denken. Gewiß, wenn hinter Kehlweilers Knöchelchen ein Verbrechen steckte, konnte auch das ein gemeiner und geplanter Mord sein. Kehlweiler dachte daran und wollte es wissen.
Ja, vielleicht, aber gut, das war dessen Job, nicht seiner. Hätte er Kehlweiler gebeten, ihm dabei zu helfen, die Rechnungsbücher der Lehnsherrschaft von Saint-Amand zu transkribieren, was hätte er dann geantwortet? Er hätte Scheiße geantwortet, und das wäre normal gewesen.
Aus, Schluß, vorbei, unmöglich, sich zu konzentrieren. Und all das wegen diesem Typen, seiner Geschichte mit dem Hund, dem Gitter, dem Mord, der Bank. Wenn der Pate dagewesen wäre, hätte er ihm klar und deutlich gesagt, was er über Louis Kehlweiler dachte. Da stellt man ihn für eine kleine Archivarbeit ein, die Sache artet aus, man zwingt ihn, noch sehr viel mehr zu machen. Obwohl,
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