Das Paradies am Fluss
in Ruhe, damit sie sich einrichten kann, und später rufen wir sie an, um zu hören, ob sie morgen Hilfe gebrauchen kann. Ich schreibe ihr eine SMS. Hör auf, dir Gedanken zu machen, Ma! Wir sind doch losgefahren, um ein bisschen Spaß zu haben, weißt du noch? Das hast du jedenfalls zu Pa gesagt.«
»Ja«, antwortet sie sofort. »Du hast ja recht. Und es ist eine gute Idee, Kate eine SMS zu schreiben. Wenn sie möchte, können wir ja morgen noch einmal in die Stadt fahren. Lass mir eine Stunde Zeit, und dann lade ich dich auf ein Bier ein!«
»Klingt gut«, sagt er.
Jess ist nach Westen unterwegs und fährt über die Autobahnbrücke über den Fluss Exe. Sie wirft einen kurzen Blick auf das Stück Papier, das auf dem Beifahrersitz liegt, wechselt die Spur und fährt von der M5 auf die A30 ab.
»Der schnellste Weg nach Tavistock«, hat Kate ihr erklärt, »ist über die A30, und dann in Sourton abfahren. Die Fahrt über das Moor ist spektakulärer, aber dieser Weg ist schneller, und das Moor können wir später immer noch erkunden, wenn Sie wollen.«
Sie hat Kate sofort gemocht; die beiden haben sich gleich gut verstanden. Die Ältere strahlte eine Direktheit und Einfachheit aus, die sie ansprach, und sie haben gemeinsam darüber gelacht, wie sehr sie es beide hassen, wenn sie sich schick machen müssen.
»Wenigstens haben Sie Talent dazu, sich zurechtzumachen«, bemerkte Kate. »Ich dagegen sehe immer aus, als hätte ich mich in einer Altkleiderkammer eingedeckt. Ich kann es kaum abwarten, meine Jeans wieder anzuziehen.«
Bei der Erinnerung muss Jess grinsen. Und es ist wirklich komisch, dass Kate ihre Großeltern von ganz früher kennt. Sie haben über das Leben bei der Marine geredet, die vielen Umzüge und die Trennungen, und es war, als wären sie alte Freundinnen, die sich seit ewigen Zeiten nicht gesehen haben.
Es ist schön, so glücklich zu sein: diesen angesehenen Preis gewonnen, die Abschlussprüfungen mit Auszeichnung bestanden zu haben und ein ganzes Jahr frei zu haben, um zu überlegen, welche Richtung sie in Zukunft einschlagen soll. Das Preisgeld hat ihr Freiraum verschafft – sie hat sich dieses kleine Auto gekauft und ist jetzt wirklich unabhängig. Jess spürt, dass sie übers ganze Gesicht strahlt, aber sie kann nicht anders. Seit Daddys Tod ist das Leben nicht mehr so schön gewesen – und das liegt teilweise daran, dass sie an den Ort fährt, an dem er geboren ist und an dem ihre Großeltern sich kennengelernt haben. Dort möchte sie ein paar Monate entspannen. Kate hat in einer ihrer E-Mails vorgeschlagen, Jess könne doch herunterkommen und sich umsehen und ein paar Freunde ihrer Großeltern kennenlernen, und sie hat ihr dieses Cottage in Tavistock angeboten, damit sie eine Bleibe hat. Da können Sie allein sein, wenn Sie möchten, aber ich kann Sie auch herumführen und einigen Leuten vorstellen , hat Kate geschrieben – was wirklich cool ist, weil sie noch nicht so recht weiß, was sie mit dieser Reise bezweckt oder was sie konkret vorhat. Manchmal muss sie allein sein, ihren Freiraum haben; doch es ist auch gut, ein paar Freunde in der Nähe zu wissen. Unterdessen scheint die Sonne, und sie sitzt in ihrem kleinen Auto und hört Jamie Cullum. In ihrem Kofferraum sind fast ihre gesamten Besitztümer verstaut, denn Jess ist sehr minimalistisch eingestellt. Und die ganze Zeit über nimmt sie auf einer tieferen Ebene die Formen, Muster und Farben der grünen, sanft gewellten Hügel und der kleinen eckigen Felder wahr, die tiefrote, krümelige Erde, die ein knatternder alter Pflug aufwirft, und das Grau und Weiß des Möwenschwarms, der ihm folgt, hohe Bäume und kantige Hecken, deren Blätter in glühenden Herbstfarben leuchten.
Sie ist auf dem Weg nach Westen, und sie fühlt sich gut.
Kate wartet nervös. Sie läuft durch das Haus, überprüft die Zimmer und fragt sich, was Jess davon halten wird und ob es ihr wohl gefällt. Gestern Abend hat sie Bruno angerufen. Er hat sofort abgenommen, und sie wusste, dass er ihren Anruf erwartet hatte.
»Was mache ich da bloß?«, fragte sie. »Bin ich verrückt geworden? Ich kenne dieses Mädchen überhaupt nicht, und jetzt kommt sie und wird hier wohnen. Warum habe ich das nur gemacht?«
»Weil du das Gefühl hattest, das es richtig ist. Vergiss, was du jetzt empfindest! Das sind nur die Nerven. Was wirklich zählt, ist, was du zu dem Zeitpunkt gefühlt hast.«
Seit drei Jahren sind Bruno und sie auf die bestmögliche Weise befreundet. Sie
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