Das Paradies am Fluss
Problem ist«, vertraut sie ihm an, »dass ich nicht richtig weiß, wie ich Ihre Mutter ansprechen soll. Letzten Sonntag hat sie gesagt, ich soll sie nicht Lady Trehearne nennen, aber ich kann sie doch nicht einfach Rowena nennen. Oder?«
»Was hat sie selbst denn dazu gesagt?«
»Dass ich sie Rowena nennen soll …« Sie hält inne. »Aber dass es vielleicht lustig wäre, wenn ich sie Great-Granny rufe wie all die anderen jungen Leute.«
Seine blauen Augen ziehen sich zusammen, als er lächelt. »Ganz unter uns, sie nennen sie das Granny-Monster, aber egal.«
»Trotzdem.«
Er bemerkt ihr Unbehagen und stellt das Tablett zurück auf den Tisch. »Die Sache ist die«, beginnt er, »dass Sie für meine Mutter zu einer Gruppe von Menschen gehören, die seit ewigen Zeiten ein Teil der Familie sind. Mike und Juliet waren so oft hier, verstehen Sie? Mike war von Kindesbeinen an der beste Freund meines Bruders. Dann sind da meine Töchter und ihre Männer und unzählige Gören. Sie sieht Sie einfach als Teil der Großfamilie. Wahrscheinlich würde es ihr großes Vergnügen bereiten, wenn Sie es fertigbringen, sie Great-Granny zu rufen, doch Sie müssen sich auch wohl dabei fühlen. Es ist nicht schön, wenn jemand auf einer Anrede besteht, die den anderen in Verlegenheit stürzt.«
Jess nickt, er nimmt das Tablett wieder hoch, und sie gehen zurück in den Morgensalon.
Als sie später allein in der alten Segelwerkstatt ist, hat Jess Zeit, ihre Ideen und Gedanken zu sammeln und sie zu ordnen. Der große Raum schwimmt in Sonnenlicht und den Reflexen des Flusses, und sie hat das Gefühl, in eine schillernde Blase eingeschlossen zu sein. Daher tritt sie auf den Balkon, um zu sich zu kommen.
Auf der anderen Flussseite liegt im Schutz des Hügels ein kleines Dorf aus dicht an dicht stehenden Häuschen. Als sie hinübersieht, erblickt sie ein kleines Ruderboot, das sich aus den Schatten am Ufer löst und auf eines der größeren, vor Anker liegenden Boote zuhält. Wieder hat sie das überaus seltsame Gefühl, dass das schon einmal geschehen ist. Die Szene kommt ihr vertraut vor. Vielleicht hat Juliet mal hier gestanden, die Hände auf die von der Sonne erwärmte Balustrade gelegt und die Boote auf dem Tamar und die tief über dem Wasser kreisenden Vögel beobachtet. Der Gedanke beunruhigt sie nicht; sie spürt einfach eine große Sehnsucht, dieses eigenartige Gefühl der Verbundenheit zu verstehen.
Johnnie und Lady T. – nachdem sie so lange mit Kate zusammen war, kann sie nicht anders, als die alte Dame in Gedanken so zu nennen – waren erfreut, als sie ihnen sagte, dass sie überaus gern segelt. »Daddy hat es mir beigebracht«, hat sie erklärt, und Lady T. stieß einen leisen, schnell unterdrückten Triumphschrei aus, als bewiese das etwas Wichtiges.
»Wir fahren morgen hinaus«, hatte Johnnie erklärt, »damit Sie ein Gefühl für den Fluss bekommen. Wenn Sie möchten.«
Jess blickt zurück in den Raum und fragt sich, wie sie ihm ihren Stempel aufdrücken, ihm eine persönliche Note geben soll. Sie besitzt viel zu wenig, um in einem so großen Raum viel zu verändern, doch sie legt ihren Laptop und ihre Notizbücher auf einen runden Mahagonitisch unter einem der Fenster und packt behutsam das kleine Gemälde aus, das Kate ihr geschenkt hat.
»Aber ich möchte, dass Sie es bekommen«, hat sie gesagt, als Jess protestierte. »Es gehört jetzt Ihnen. David hätte sich so gefreut! Es ist das nächste Kapitel seiner Geschichte.«
»Ein Zeichen«, erwiderte Jess. »Oder ein Omen. Vielen, vielen Dank. Ich kann nicht glauben, dass ich jetzt ein Gemälde von David Porteous besitze.«
Sie sieht sich nach einem Platz für das kleine Gestell um: Auf den niedrigen Tisch, auf dem Bücher und Zeitschriften liegen? Oder in das Bücherregal zwischen zweien der Fenster? Keine Stelle scheint des Bildes ganz würdig zu sein. Daher stellt Jess es vorsichtig neben ihren Laptop und ihre Notizbücher und hofft, dass es sie inspiriert. Eigentlich möchte sie ein paar Fotos von ihrer Kamera auf den Laptop laden und sie studieren, doch sie fühlt sich zurück zum Balkon gezogen. Vielleicht ist sie hier doch zu abgelenkt; sie wird nicht arbeiten können.
Das kleine Ruderboot ist jetzt leer und wiegt sich sanft auf dem Wasser. Es ist mit der Fangleine an einem der größeren Boote festgemacht, und eine Gestalt, die vor der Sonne nur als Silhouette zu erkennen ist, bewegt sich an Deck und verschwindet dann nach unten. Ein Kormoran flattert
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