Das Paradies am Fluss
und all das, aber Rowena hatte seit über vierzig Jahren weder Juliet noch Mike gesehen. Und soweit ich weiß, hatten sie keinen Kontakt mehr miteinander. Das hat mir Rätsel aufgegeben.«
»Hat sich Johnnie auch gewundert?«
»Ach, du kennst ihn doch! Jeder ist willkommen, und es ist alles ein großer Spaß. Ich habe ihn darauf angesprochen, doch er meinte nur, das sei eben eine Gelegenheit für Rowena, über Al zu reden. Er war ihr Prinz, ihr Lieblingskind, und sie ist nie über seinen Tod hinweggekommen. Anscheinend hatte Al ein Auge auf Juliet geworfen und war außer sich darüber, dass Mike sie bekommen hat. Deswegen kam es mir ein wenig merkwürdig vor, dass Rowena sich mit so viel Zuneigung an Juliet erinnerte. Ich habe mit Fred darüber gesprochen, aber er hat Johnnie beigepflichtet. So weit, so gut – doch dann hatte sie den Herzanfall.«
»Und was glaubst du jetzt?«
Sophie zuckt mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Rowena hat Jess gerade die Fotos gezeigt, als sie den Anfall hatte. Jess war selbstverständlich sehr bestürzt. Natürlich hatte sie keine Ahnung, warum alle so fassungslos waren, als sie auftauchte. Sie sagt, sie sei absolut verblüfft gewesen, als sie Juliets Foto sah, auf dem sie im gleichen Alter war wie sie. Aber jetzt könne sie wenigstens verstehen, warum alle so auf sie reagieren.«
»Du hast also den Eindruck, dass dieser Schock Rowena aus dem Gleichgewicht gebracht und in die Vergangenheit zurückversetzt hat.«
»Ich glaube schon. Ich denke, der Auslöser für den Anfall war, dass sie mit Jess die Fotos angesehen und an Al gedacht hat. Das Problem ist, dass jeder weitere Anfall Rowena schwächt und sie schon ziemlich viele Medikamente nimmt. Sie hat noch mehrere andere gesundheitliche Probleme, daher bereitet uns das Sorgen. Die arme Jess fühlt sich auf gewisse Weise verantwortlich dafür, obwohl es nicht ihre Schuld ist.«
»Doch sie möchte bleiben.«
»Sie ist sehr gern hier. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass das Ganze sie ein wenig überfordert, aber sie mag Johnnie und Will gern, und sie sagt, dass sie im Segelloft auch gut arbeiten kann. Machst du dir Sorgen um sie?«
»Nachdem Kate in Cornwall ist, habe ich so etwas wie die Elternrolle für Jess übernommen, doch sie ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Aber ich muss demnächst wegen ein paar Konferenzen landeinwärts fahren, und da ist es mir lieber, wenn sie hier ist statt allein oder mit Guy in der Chapel Street. Der, zusammen mit meiner Schwester und ihren Zwillingen, noch einmal eine ganz andere Komplikation darstellt.«
Sie schenkt ihm einen mitfühlenden Blick. »Du scheinst deine Onkelrolle wirklich sehr ernst zu nehmen. Was ist Guys Problem?«
Oliver stöhnt auf. »Wie lange hast du Zeit?«
Nachdem Oliver fort ist, geht Sophie über den Rasen in den Seegarten und lehnt sich an die Balustrade. Über ihr ragt die Circe auf und hält Ausschau nach der Alice .
Sophie fühlt sich fast so verwirrt wie die arme alte Rowena oben in ihrem Schlafzimmer. Sie hat nicht damit gerechnet, noch einmal so zu empfinden; sie ist unermesslich glücklich und vermisst Oliver jetzt schon. Die Welt funkelt, als hätte sie sich extra für sie frisch gewaschen, und winzige bunte Segel huschen auf dem schimmernden Wasser unter den zwei eleganten Brücken hin und her. Am Rand des Seegartens werfen die graziösen Fächerahorne sanft ihre gelben und scharlachroten Blätter ab, und orangefarbene Spindelsträucher bilden in den Hecken lebhafte Farbflecke.
Angesichts dieser Schönheit, die vollkommen eins zu sein scheint mit der Wärme ihrer Liebe, ist Sophies Herz von Freude erfüllt. Gleichzeitig jedoch kann sie sich die Zukunft noch nicht vorstellen.
»Du würdest dieses Anwesen nie verlassen wollen, oder?«, hat Oliver gefragt. »So sehr gehörst du hierher, zu all diesen Menschen.«
Und er hat recht. Wie könnte sie von ihnen fortgehen – Rowena, Johnnie, dem kleinen Will – und sie sich selbst überlassen?
Menschen verlassen ständig ihre Familien, sagt sie sich. Und die Familien kommen zurecht und finden andere, die ihnen helfen. Sie streckt eine Hand aus und berührt die aus Holz geschnitzten Falten am dunkelroten Rock der Circe. Johnnie hat sie letztes Jahr frisch streichen lassen, die glänzenden schwarzen Locken, die dunkelroten, lächelnden Lippen und das blau-weiße Mieder. Sophie sieht zu ihr auf. Die Circe würde ihr fehlen, das Segeln mit Johnnie und Fred und die
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