Das Paradies der Damen - 11
ihren Augen die Wiesen und Weiden des Cotentin zu erstehen, in einen leuchtenden Dunst gebadet, der den Horizont in zartem Grau verschwimmen ließ. Das Gesumme des rastlos tätigen Betriebs unter ihnen klang ihnen wie das Raunen des Windes, der vom Meer herüberkam, über die Gräser strich und in den Bäumen rauschte.
»Mein Gott, Fräulein Denise«, sagte Deloche endlich, »warum sind Sie nicht etwas freundlicher gegen mich? Ich liebe Sie so sehr!«
Die Tränen traten ihm in die Augen. Als sie ihn unterbrechen wollte, fuhr er lebhaft fort:
»Nein, lassen Sie es mich noch einmal sagen. Wir würden einander so gut verstehen: man hat doch immer etwas zu plaudern, wenn man aus der gleichen Gegend ist.«
Seine Stimme versagte, und sie konnte ihm endlich in sanftem Ton erwidern:
»Sie sind unvernünftig, Sie haben mir doch versprochen, nicht mehr davon zu reden … Es ist unmöglich. Ich bin Ihnen sehr gut, weil Sie ein braver Junge sind, aber ich will frei bleiben.«
»Ja, ja, ich weiß es«, sagte er mit gebrochener Stimme. »Sie lieben mich nicht. Sie können es mir ruhig sagen, ich sehe es ja. Warum sollten Sie auch; an mir ist schließlich nichts, weshalb Sie mich liebgewinnen könnten. Eine glückliche Stunde hatte ich in meinem Leben, das war an jenem Abend, als ich Sie in Joinville traf. Sie erinnern sich doch noch? Als wir unter den schattigen Bäumen spazierengingen, fühlte ich einen Augenblick Ihren Arm in meinem zittern. Und ich war dumm genug, mir einzubilden –«
Sie unterbrach ihn von neuem. Ihr feines Ohr hatte den Schritt von Bourdoncle und Jouve am anderen Ende des Ganges wahrgenommen.
»Hören Sie? Es kommt jemand.«
»Nein«, sagte er und hielt sie zurück, als sie vom Fenster wegtreten wollte. »Das ist das Plätschern des Wassers in dem Behälter dort.«
Er fuhr in seinen schüchternen und einschmeichelnden Klagen fort. Der liebkosende Klang dieser zärtlichen Reden ließ sie wieder in ihre Träume versinken, sie hörte gar nicht mehr, was er sagte, ihre Blicke schweiften über die Dächer, die in der Sonne glänzten. Aus der Ferne vernahm man das dumpfe Tosen von Paris.
Als Denise aus ihrer Träumerei erwachte, sah sie, daß Deloche ihre Hand ergriffen hatte. Sein Gesicht war so verstört, daß sie nicht den Mut hatte, sich von ihm loszumachen.
»Verzeihen Sie mir«, murmelte er. »Es ist schon vorbei; ich wäre zu unglücklich, wenn Sie mir Ihre Freundschaft entziehen würden. Ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen etwas anderes sagen wollte. Ja, ich hatte mir vorgenommen, mich in das Unvermeidliche zu fügen, mich vernünftig zu benehmen … Ich sehe ja, wie es mir immer ergeht, und das wird nicht mehr besser: geschlagen zu Hause, geschlagen in Paris, überall geschlagen. Ich bin seit vier Jahren hier und nach wie vor der Letzte in der Abteilung … Ich wollte Ihnen sagen, Sie möchten sich meinetwegen keine Sorge machen. Seien Sie glücklich, lieben Sie einen andern; wenn Sie glücklich sind, werde auch ich glücklich sein. Ihr Glück wird auch das meine sein.«
Er konnte nicht weiter; gleichsam um sein Versprechen zu besiegeln, hatte er seine Lippen auf die Hand des jungen Mädchens gedrückt und küßte sie mit der Untergebenheit eines Sklaven. Sie war tief verwirrt und sagte voll schwesterlicher Zärtlichkeit:
»Mein armer Junge!«
Da schraken sie beide zusammen. Sie wandten sich um, Mouret stand vor ihnen.
Jouve hatte den Chef seit zehn Minuten in allen Räumen gesucht. Endlich hatte er ihn auf dem Bauplatz für die neue Fassade an der Rue du Dix-Décembre gefunden. Täglich verbrachte er hier viele Stunden, bemüht, sich in diese so lang erträumten Arbeiten zu versenken. Hier, mitten unter den Maurern und den Gerüstarbeitern, hatte er einen Zufluchtsort vor seinen Qualen gefunden. Er pflegte auf den Leitern emporzuklettern, besprach sich mit dem Architekten, stieg über Berge von Baumaterial hinweg und verschwand in den Kellern. Das Getöse der Maschinen, das Geschrei der Arbeiter betäubte ihn für kurze Zeit; doch in dem Maß, wie der Lärm des Bauplatzes sich hinter ihm verlor, erwachte von neuem das Leid im Innersten seines Herzens.
Heute hatte diese Zerstreuung ihm gerade wieder ein wenig von seiner alten Unbekümmertheit geschenkt, da kam Jouve ganz atemlos herbeigeeilt, um ihn zu holen.
Zuerst war er verdrossen über die Störung und meinte, man werde wohl einen Augenblick auf ihn warten können. Als der Inspektor ihm aber einige Worte ins Ohr geflüstert hatte,
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