Das Paradies des August Engelhardt
reichte der Platz nicht mehr. Die nächste Kiste zog er ein paar Meter weiter, öffnete den Deckel, warf mit dem Inhalt um sich. Er konnte sich nicht bremsen, dafür waren es zu viele Bücher, Wörter für den ganzen Rest seines Lebens, viel mehr, als er sich erinnerte, eingepackt zu haben, natürlich hat er sie auch schon zu Hause besessen, in seiner Wohnung oder eingekauft für seine Reise, aber hier würde er auch die Zeit dazu haben, die Muße, die Konzentration.
… die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat…
Dass die Pest auf all das falle! Hol’ die Pest Euch Weiber alle…
Übrigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem Herzen köstlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend…
Noch eine Kiste. Engelhardt stapelte die Bücher jetzt um sich herum, eine Burg aus Büchern, ein Wall gegen die Dummheit, gegen die Religion, gegen die Sünde, die ganze Welt war bei ihm auf der Insel, die Besten der Besten würden zu ihm sprechen und nichts würde ihn ablenken, niemand zwischen ihn und die Bücher treten, keine Pflicht rief ihn, keine Zerstreuung, niemand klopfte an der Tür, suchte ein Gespräch, wollte seine Sorgen loswerden oder die seinen hören, reiner Geist würde er werden, mit ihrer Hilfe. Er hatte den Irrsinn des Wintermenschentums endlich überwunden und würde dank der Bücher die Weisheit des Sonnenmenschen entwickeln.
Im traurigen Monat November war’s, Die Tage wurden trüber, Der Wind riß von den Bäumen das Laub …
Vom Winter würde er in Zukunft nur lesen. Nie wieder Blätter fallen sehen im Herbst. Nicht mehr den ersten Schnee, der die Natur erstickte. Nicht feuchten Nebel auf der Haut spüren, nie wieder frieren in der halb geheizten Stube, keine klammen Finger mehr, keine feuchten Wollsocken. Nicht die dumpfe Kohlenluft der Städte. Nie wieder aufs Eis, aber daran wollte er nicht denken, nicht ans Eis denken, nie wieder, lieber weiterlesen:
… daß ich ein Vogel wäre, frei wie der Vogel, frei von allen Rücksichten wie der kleine Singvogel…
Man hat mich getadelt, daß ich unstet und flüchtig sei: man tat mir Unrecht…
Seume. Auch ein Flüchtling, zu Fuß nach Sizilien, heute aber würde er in der Südsee siedeln, die Sonne Italiens war zu unbeständig und schwach, erst am Äquator konnte man ihr vorbehaltlos vertrauen. Engelhardt ließ sich fallen, bettete seinen Kopf auf Schiller, umarmte Karl May und Schleiermacher, schob Wieland beiseite, weil der unter der Hüfte drückte, legte die Füße auf einen Stapel aus Boccaccio, Pestalozzi, Kant und Ovid und schlief ein.
Kabua steht und schaut auf den schlafenden Mann, in der Hand das Messer des chinesischen Händlers aus Eisen, ein gutes Messer, er kann sein Gesicht in der Klinge spiegeln. Die Weißen haben es gut. Sie brauchen nicht zu arbeiten. Sie beschäftigen sich nur mit Lesen und Schreiben. Die Nahrung kommt ohne Mühe zu ihnen. Sie selber müssen graben, pflanzen und jäten.
Er ist allein mit dem Weißen, zum ersten Mal. Seine Männer fürchten den Zauber der Bücher und sind umgekehrt. Vielleicht haben sie recht. Zu viele Bücher sind offen. Der Wind spielt in den Seiten. Kabua hört, wie sie flüstern. Die Geschichten schleichen sich in die Welt und werden dort Unheil anrichten. Die Bücher in seiner Nähe klappt er zusammen. Es wird ruhiger, nur ein Buch neben seinen Füßen raschelt noch leise. Er lässt das Messer sinken, hebt das Buch auf und entziffert die Buchstaben. Er hat sie nicht vergessen. PEER GYNT. Er weiß nicht, was das bedeutet, obwohl die Missionare ihm Lesen und Schreiben beigebracht haben und die Bibel, aber er ist dennoch kein Weißer geworden, trotzdem musste er arbeiten, das ist bitter, und so kehrte er zurück auf die Insel der Ahnen, auch wenn sie ihnen nicht mehr gehört, weil sein Vater seinen Daumenabdruck auf ein Papier gesetzt hat.
Der Weiße schläft unruhig. Er wälzt sich hin und her. Einmal reißt er die Augen auf, starrt ihn an, presst die Lider wieder zusammen, schläft weiter. Eine seiner Seelen ist in der Welt der Träume, die andere bewacht seinen Körper. Kabua würde gerne wissen, wovon der Weiße träumt. Der Zauberer sollte hier sein, er kann die Wege der Traumseele sehen. Als der Zauberer gesehen hat, dass die Traumseele seines Sohns von einem Krokodil gefressen wird, wusste er, dass er stirbt, und so war es.
Kabua wartet auf ein Zeichen, den
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