Das Paradies ist anderswo
dieses Mannes zu erliegen, der einen Zauber auf sie ausübte, wie es ihr zuvor bei keinem Mann widerfahren war. Doch die Abscheu vor der Sexualität, die sie seit ihrer Ehe mit Chazal empfand, war stärker.
»Ich bedaure es, daß Sie mit dieser Plumpheit die Sympathie zerstört haben, die ich Ihnen entgegengebracht habe, Clemente.«
Und sie gab ihm eine eher kraftlose Ohrfeige, die das überraschte blonde Gesicht kaum erschütterte.
»Ich bin es, der es bedauert, Florita«, sagte Althaus, während er die Hacken zusammenschlug. »Es wird nicht noch einmal vorkommen. Ich schwöre es Ihnen bei meiner Ehre.«
Er hielt sich an sein Wort, und in den restlichen Monaten,die Flora in Arequipa verbrachte, trat er ihr weder in Worten noch in Taten zu nahe, wenn sie auch bisweilen in seinen meerblauen Augen ein Aufflammen von Begehren bemerkte.
Wenige Tage nach diesem Vorfall in den Bädern von Tingo erlebte sie das erste Erdbeben ihres Lebens. Sie befand sich in ihrem Vorzimmer und schrieb gerade einen Brief, als sie, Sekunden bevor alles zu beben begann, ein gewaltiges Hundegebell in der Stadt vernahm – man hatte ihr gesagt, daß die Hunde die ersten seien, die fühlten, was kommen würde – und sah, daß im gleichen Augenblick ihre Sklavin Dominga auf die Knie fiel und mit erhobenen Armen und schreckgeweiteten Augen laut zum Herrn der Erdbeben zu beten begann:
Erbarmen, Herr
Besänftige, Herr, deinen Zorn
Deine Gerechtigkeit und deine Strenge
Süßer Jesus meines Lebens
Bei deinen hochheiligen Wunden
Erbarmen, Herr.
Die Erde bebte ununterbrochen zwei Minuten lang, mit einem dumpfen, tiefen Grollen, während Flora, wie gelähmt, vergaß, zur Türschwelle zu laufen, wie ihre Verwandten sie gelehrt hatten. Das Beben richtete in Arequipa keine großen Schäden an, aber es zerstörte Städte an der Küste, Tacna und Arica. Die drei oder vier Nachbeben, die folgten, waren leicht im Vergleich zur ersten Erschütterung. Nie würdest du dieses Gefühl von Ohnmacht und Katastrophe vergessen, das du während dieser endlosen Minuten empfunden hattest. Hier in Marseille, elf Jahre später, ließ es dich noch immer erschauern.
Die letzten Tage in dem Mittelmeerhafen verbrachte sie im Bett, erschöpft von der Hitze, den Magenschmerzen, der allgemeinen Schwäche und den anfallartig auftretenden Neuralgien. Es machte sie wütend, auf diese Weise ihreZeit zu verlieren, wo ihr noch so viel zu tun blieb. Ihr Eindruck von den Arbeitern in Marseille verbesserte sich in diesen Tagen ein wenig. Als sie sahen, daß sie krank war, kümmerten sie sich aufopferungsvoll um sie. Sie erschienen in kleinen Gruppen in der Pension, brachten ihr Obst oder einen kleinen Blumenstrauß, verharrten an ihrem Bett, aufmerksam und verlegen, mit ihren Mützen in der Hand, und warteten ergeben darauf, daß sie eine Bitte äußerte. Mit Hilfe von Benjamin Mazel konnte sie ein zehnköpfiges Komitee der Arbeiterunion bilden, dem außer dem Broschürenverfasser und Agitator nur Handwerker angehörten: ein Schneider, ein Tischler, ein Maurer, zwei Sattler, zwei Friseure, eine Näherin und sogar ein Stauer.
Die Versammlungen in ihrem Schlafzimmer in der Herberge verliefen entspannt. Wegen ihrer Schwäche und ihres Unwohlseins sprach Flora wenig. Aber sie hörte viel zu, und sie amüsierte sich über die Naivität ihrer Besucher und ihren ungeheuren Mangel an Bildung oder ärgerte sich über die bürgerlichen Vorurteile, die sie übernommen hatten. Gegen die türkischen, griechischen und genuesischen Einwanderer zum Beispiel, die sie für sämtliche Diebstähle und Verbrechen verantwortlich machten; oder gegen die Frauen, die sie nicht für ihresgleichen und für gleichberechtigt anzusehen vermochten. Um sie nicht aufzubringen, taten sie, als würden sie ihre Ideen über die Frau akzeptieren, doch Flora sah an ihren Gesichtern und an den verstohlenen Blicken, die sie miteinander tauschten, daß sie sie nicht überzeugt hatte.
Bei einer dieser Versammlungen erfuhr sie von Mazel, daß Madame Victoire nicht nur Kupplerin, sondern auch Spitzel der Polizei war. Und daß sie seit Tagen an einschlägigen Orten in Marseille Erkundigungen über sie einzog. Also folgten auch hier die Behörden ihren Schritten. Salin, ein Tischler, der sie täglich besuchte, hörte dies mit großer Sorge, und da er fürchtete, die Polizei könnte sie festnehmen und in eine Besserungsanstalt für Prostituierte und Diebinnen einsperren, schlug er ihr vor, sie mit seiner Uniformder
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