Das Paradies ist anderswo
aufzustehen und bedient zu werden, ständig eine Sklavin zur Verfügung zu haben, die auf deine Befehle wartete, dich niemals um Geld zu sorgen, denn solange du in diesem Haus lebtest, würde es für dich immer Essen, ein Dach, Fürsorge und eine Garderobe geben, die sich dank der Großzügigkeit der Verwandtschaft, vor allem deiner Kusine Carmen de Piérola, in wenigen Tagen vervielfacht hatte. Bedeutete diese Behandlung, daß Don Pío und die Familie Tristán beschlossen hatten, zu vergessen, daß du eine uneheliche Tochter warst, und dich mit allen Rechten als eheliche Tochter anzuerkennen? Das würdest du erst bei Don Píos Rückkehr endgültig erfahren, aber die Anzeichen waren ermutigend. Alle behandelten sie dich, als hättest du dich nie von der Familie entfernt. Vielleicht war das Herz deines Onkels Pío weich geworden. Er würde dich als legitime Tochter seines Bruders Mariano anerkennen und dir den Teil des Erbes deiner Großmutter und deines Vaters überlassen, der dir zustand. Du könntest mit einem Einkommen nach Frankreich zurückkehren, das dir in Zukunft erlauben würde, ein bürgerliches Leben zu führen.
Ach, Florita! Besser, daß es anders gekommen war, nicht wahr? Du hättest dich am Ende in eine dieser reichen, dummen Puten verwandelt, die du jetzt so verachtetest. Wieviel besser, daß du diese Enttäuschung in Arequipa erleben mußtest und durch Niederlagen lernen konntest, die Ungerechtigkeit zu erkennen, sie zu hassen und zu bekämpfen. Das Land deines Vaters entließ dich nicht als reiche Frau nach Frankreich, wohl aber als Rebellin, alsKämpferin für die Gerechtigkeit, als »Paria«, wie du dich selbst voll Stolz in dem Buch über dein Leben nennen solltest. Im Grunde hattest du Arequipa viel zu verdanken, Florita.
Die interessanteste Versammlung in Marseille hielt sie bei einer Bruderschaft von Sattlern ab. In dem Lokal, das erfüllt war vom Geruch nach Leder, Färbemitteln und feuchtem Holz und in dem sich etwa zwanzig Personen eingefunden hatten, erschien plötzlich Benjamin Mazel, ein Schüler von Charles Fourier. Er war ein stattlicher Mann in den Vierzigern, strotzend vor Energie, mit dem wirren Haarschopf eines romantischen Dichters, eingehüllt in einen fleckigen, mit Haarschuppen übersäten Umhang, ein leidenschaftlicher Redner. Er hatte ein mit Anmerkungen versehenes Exemplar von L’Union Ouvrière bei sich. Seine Ausführungen und seine Kritik faszinierten dich augenblicklich. Mazel, der dich mit seinem athletischen Körperbau und seiner leicht entflammbaren Begeisterung an Oberst Clemente Althaus in Arequipa erinnerte, erklärte, während er wie ein Italiener gestikulierte, daß im Entwurf der sozialen Reform der Arbeiterunion neben dem Recht auf Arbeit und Bildung das Recht auf das tägliche, kostenlose Brot fehle. Er legte seine These ausführlich dar und überzeugte die etwa zwanzig Sattler und Flora selbst sofort. In der künftigen Gesellschaft würden die Bäckereien, ausnahmslos in staatlichen Händen, eine öffentliche Dienstleistung erbringen, wie die Schulen und die Polizei; sie wären keine kommerziellen Einrichtungen mehr und würden den Staatsbürgern kostenlos Brot liefern. Die damit verbundenen Kosten würden mit Steuern finanziert. So würde niemand Hungers sterben, niemand müßig leben, und alle Kinder und Jugendlichen könnten Schulbildung erhalten.
Mazel verfaßte Broschüren und hatte eine kleine Zeitung geleitet, die als subversiv verboten worden war. Während sie um einen Tisch mit Erfrischungsgetränken und Teetassen saßen und Flora ihn von seinen politischen Mißgeschickenerzählen hörte – er war mehrmals als Agitator festgenommen worden –, konnte sie nicht aufhören, an Althaus zu denken, den Menschen, der sie, von der Marschallin abgesehen, damals in Peru am meisten beeindruckt hatte. Wie Mazel verströmte auch Clemente Althaus Energie und Vitalität aus allen Poren, verkörperte er Abenteuer, Gefahr, Taten. Doch im Unterschied zu Mazel machte ihm die Ungerechtigkeit nichts aus, weder die Tatsache, daß es so viele Arme und so wenige Reiche gab, noch daß letztere die Mittellosen so grausam behandelten. Für Althaus kam es darauf an, daß es Kriege in der Welt gab, damit er an ihnen teilnehmen, damit er schießen, töten, befehlen, eine Strategie entwerfen und anwenden konnte. Krieg führen war seine Berufung und sein Beruf. Er war ein großer, blonder Deutscher mit apollinischem Körper und stahlblauen Augen, der, als Flora ihn
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