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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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würde dich als Lügnerin und Zynikerin, als entflohene Ehefrau und seelenlose Mutter verstoßen.
    Wie konnte sie sich also von ihm befreien? In ihrem Bett in Marseille, während sie sich in der glühenden Abenddämmerung dieses Oktobers Luft zufächelte und dem Gesang der Zikaden lauschte, spürte Flora erneut das Ziehen im Magen und das Schuldgefühl, das schlechte Gewissen. Das geschah jedesmal, wenn sie an die List dachte, mit deren Hilfe sie Chabrié enttäuscht und sich seiner Verfolgung entzogen hatte. Jetzt fühltest du auch das kalte Metall der Kugel nah am Herzen.
    »Gut, Zacharie. Wenn es stimmt, daß Sie mich so sehr lieben, dann beweisen Sie mir es. Beschaffen Sie mir ein Zertifikat, eine Geburtsurkunde, die beweist, daß ich die eheliche Tochter meiner Eltern bin. Auf diese Weise werde ich mein Erbe einfordern können, und wir werden damit ruhig und sicher in Kalifornien leben können. Werden Sie das tun? Sie haben Bekannte und Einfluß in Frankreich. Werden Sie mir diese Urkunde beschaffen, auch wenn Sie dafür einen Beamten bestechen müssen?«
    Der rechtschaffene Mann und integre Katholik wurde blaß und riß die Augen auf, ohne glauben zu können, was er gerade gehört hatte.
    »Aber Flora, begreifen Sie, worum Sie mich da bitten?«
    »Der wahren Liebe ist nichts unmöglich, Zacharie.«
    »Flora, Flora. Ist das der Liebesbeweis, den Sie brauchen? Daß ich ein Verbrechen begehe? Daß ich gegen das Gesetz verstoße? Das erwarten Sie von mir? Daß ich zum Verbrecher werde, damit Sie in den Besitz eines Erbes gelangen können?«
    »Ich sehe schon. Sie lieben mich nicht genug, damit ich Ihre Frau werden kann, Zacharie.«
    Du sahst, wie er erst noch blasser wurde und dann rot anlief, als träfe ihn gleich der Schlag. Er stand schwankend da, kurz davor, zusammenzubrechen. Schließlich entfernte er sich, mit dem Rücken zu dir, mit schleppenden Schritten, wie ein alter Mann. An der Tür wandte er sich um und sagte mit erhobener Hand, als wollte er dich exorzieren:
    »Sie sollen wissen, daß ich Sie jetzt ebenso hasse, wie ich Sie geliebt habe, Flora.«
    Was mochte in all diesen Jahren aus dem guten Chabrié geworden sein? Du hattest nie wieder von ihm gehört. Vielleicht hatte er die Fahrten einer Paria gelesen und auf diese Weise den wahren Grund der häßlichen List erfahren, mit der du seine Liebe zurückgewiesen hattest. Hätte er dir verziehen? Haßte er dich vielleicht noch immer? Wie wäre dein Leben gewesen, Florita, wenn du Chabrié geheiratet und dich mit ihm in Kalifornien begraben hättest, ohne jemals wieder den Fuß nach Frankreich zu setzen? Ruhig und sicher, ohne Zweifel. Aber dann wären dir nie die Augen aufgegangen, und du hättest keine Bücher geschrieben und dich nicht in die Bannerträgerin der Revolution verwandelt, um die Frauen aus der Sklaverei und die Armen der Welt von der Ausbeutung zu befreien. Letztlich hattest du gut daran getan, diesem herzensguten Mann in Arequipa so übel mitzuspielen.
    Als Flora sich etwas von ihren Leiden erholt hatte und ihre Koffer packte, um ihre Reise in Richtung Toulon fortzusetzen, brachte Benjamin Mazel ihr eine amüsante Nachricht. Der Dichter-Maurer Charles Poncy, der sie unter dem Vorwand einer Erholungsreise nach Algier versetzt hatte, war nie über das Mittelmeer gefahren. Er hatte zwar das Schiff bestiegen, aber noch vor dem Auslaufen vor lauter Entsetzen angesichts der Gefahr eines Schiffbruchs einen Nervenanfall erlitten und schreiend und weinend verlangt, man solle den Steg auslegen und ihn vom Schiff gehen lassen. Die Schiffsoffiziere entschieden sichfür das Mittel, mit dem die englische Marine den Rekruten die Angst vor dem Meer zu nehmen pflegte: sie warfen ihn kurzerhand über Bord. Halbtot vor Scham, hatte Charles Poncy sich in seinem kleinen Haus in Marseille versteckt, wo er die Zeit verstreichen ließ, um die Welt glauben zu machen, er befinde sich in Algier auf der Suche nach den Musen. Ein Nachbar hatte ihn verraten, und jetzt war er das Gespött der ganzen Stadt.
    »So sind sie, die Dichter«, befand Flora.

XII

Wer sind wir?
Punaauia, Mai 1898
    Er kam sehr früh nach Papeete, bevor die Hitze einsetzte. Das am Vorabend angekündigte Postschiff aus San Francisco war bereits in die Lagune eingelaufen und hatte angelegt. Er wartete bei einem Bier in einem Hafenlokal auf das Erscheinen der Postangestellten. Er sah sie auf dem Quai du Commerce in einem Wagen vorbeifahren, der von einem trägen Pferd gezogen wurde, und der ältere

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