Das Paradies ist anderswo
geschnitzt hatte, und verließ das Haus, ohne dem Chaos aus Büchern, Heften, Kleidungsstücken, Postkarten, Gläsern und Flaschen, zwischen denen die Katze schlummerte, einen Abschiedsblick zu gönnen. Nicht einmal seinem Atelier, in dem er in den letzten Wochen wie in einem Gefängnis, in einem Zustand glühender Erregung, gelebt hatte, völlig hingegeben an das riesige Bild. Er ging blicklos an der kleinen benachbarten Schule vorbei, aus der Stimmengewirr und Getrappel zu hören waren, und beeilte sich, die Obstplantage seines Freundes, des ehemaligen Soldaten Pierre Levergos, zu durchqueren. Er durchwatete den Bach und schlug die Richtung zum Tal von Punaruu ein, das sich von der Küste entfernte und den dichtbewaldeten, steilen Bergen zustrebte.
Es herrschte bereits große Hitze, die typische Sommerhitze,die dem Unvorsichtigen, der sich der sengenden Sonne längere Zeit mit unbedecktem Kopf aussetzte, die Sinne rauben konnte. In einigen der spärlichen Eingeborenenhütten hörte er Lachen und Gesänge. Das Neujahrsfest, das vor einer Woche begonnen hatte. Und zweimal bevor er das Tal verließ, hörte er, wie man ihn grüßte (»Koke«, »Koke«), seinen Spitznamen rief, der in Wirklichkeit ein Versuch der Tahitianer war, seinen Nachnamen so genau wie möglich auszusprechen. Er antwortete ihnen mit einer Handbewegung, ohne stehenzubleiben, und beschleunigte den Schritt, was das Brennen der Beine und die stechenden Schmerzen im Knöchel verstärkte.
Aber er kam nur langsam voran, hinkend, auf den Stock gestützt. Ab und zu wischte er sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn. Fünfzig Jahre war ein angemessenes Alter, um zu sterben. Würde der Nachruhm kommen, an den du in deinen jungen Jahren in Paris, in Finistère, in Panama und auf Martinique so fest geglaubt hattest? Wenn die Nachricht deines Todes in Frankreich eintraf, würden die Pariser dann in ihrer Frivolität eine prickelnde Neugier für dein Werk und deine Person entwickeln? Würde dir das gleiche widerfahren wie dem verrückten Holländer nach seinem Selbstmord? Die Neugier, die Anerkennung, die Bewunderung, das Vergessen. Es bedeutete dir nicht das geringste.
Er hatte begonnen, den Berg auf einem schmalen Pfad zu erklimmen, der im Schatten einer dichten Vegetation aus Kokospalmen, Mangobäumen und Brotbäumen lag, die halb von Gestrüpp überwuchert waren. Er mußte sich den Weg bahnen, indem er den Stock wie eine Machete benutzte. ›Ich bereue nichts in meinem Leben‹, dachte er. Falsch. Du bereutest, dich mit der unaussprechlichen Krankheit angesteckt zu haben, Koke. Je steiler der Weg wurde, desto langsamer bewegte er sich vorwärts. Sein Herz raste von der Anstrengung. Daß dich nur nicht gerade jetzt ein Infarkt ereilte. Dein Tod würde sein, wie du ihn geplant hattest, nicht wie und wann die unaussprechlicheKrankheit es wollte. Im Schutz der Vegetation des Berghangs zu laufen war tausendmal besser, als es im Tal zu tun, unter dem Himmelsfeuer, diesem Instrument, das einem den Schädel durchbohrte. Er blieb mehrmals stehen, um Luft zu holen, bevor er das kleine Hochplateau erreichte. Er war vor Monaten hier oben gewesen, geführt von Pau’ura, und kaum hatte er diese baumlose, jedoch mit zahllosen Farnen in allen Größen bewachsene Esplanade betreten, von der aus man das Tal, die weiße Linie der Küste, die bläuliche Lagune, das rosafarbene Licht der Korallenriffe und dahinter das Meer sehen konnte, das mit dem Himmel verschmolz, war ihm der Gedanke gekommen: ›Hier will ich sterben.‹ Es war ein wunderschöner Ort. Ruhig, vollkommen, unberührt. Vielleicht der einzige auf ganz Tahiti, der genau dem Refugium glich, das du im Sinn hattest, als du 1891, vor sieben Jahren, aus Frankreich in Richtung Südsee gezogen warst, nicht ohne zuvor deinen Freunden zu verkünden, du wolltest der vom Goldenen Kalb verdorbenen europäischen Zivilisation den Rücken kehren und auf die Suche nach einer reinen, ursprünglichen Welt gehen, unter deren winterlosen Himmeln die Kunst nicht ein weiteres Geschäft wäre, sondern eine existentielle, religiöse, sportliche Betätigung, und wo ein Künstler wie Adam und Eva im Garten Eden nur die Hand auszustrecken und seine Nahrung von den fruchtbaren Bäumen zu pflücken brauchte. Die Wirklichkeit hatte deinen Träumen nicht standgehalten, Koke.
Bis hinauf zu diesem kleinen natürlichen, am Berg hängenden Balkon stieg mit einer sanften Brise der intensive Duft, der in den Regenmonaten von den Pflanzen
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