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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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ausging und den die Tahitianer noa noa nannten. Er atmete ihn genußvoll ein, und einige Sekunden lang vergaß er seinen Knöchel und seine Beine. Er setzte sich auf ein Stück trockene Erde, am Fuß eines Farnstrauchs, der ihm den Himmel verdeckte. Ohne jede Emotion, ohne daß ihm die Hand zitterte, öffnete er die Tüte und schluckte das ganze Arsenikpulver, wobei er seinen Speichel zu Hilfe nahmund kleine Pausen machte, um sich nicht zu verschlucken. Dann leckte er die letzten Reste der Tüte aus. Es hatte einen erdigen, leicht sauren Geschmack. Er wartete auf die Wirkung des Giftes, ohne Angst, ohne sich eines dieser schauerlichen Bilder auszumalen, die ihm so gefielen, mit distanzierter Neugier. Nicht lange, und er begann zu gähnen. Würdest du einschlafen? Würdest du sanft, bewußtlos vom Leben in den Tod hinübergleiten? Du glaubtest, es sei dramatisch, an Gift zu sterben, sei mit grausamen Schmerzen, reißenden Muskeln, versagenden Eingeweiden verbunden. Statt dessen versankst du in einer nebligen Welt und begannst zu träumen.
    Er träumte von der Negerin in Panama, im April oder Mai 1887, deren Geschlecht rot war wie ein Blutgerinnsel. Vor der Tür ihrer Bretterhütte wartete immer eine längere Schlange als vor den anderen kolumbianischen Huren des Lagers. Die Kanalarbeiter gaben ihr den Vorzug wegen des »Hündchens«, was, wie Paul erst nach einer Weile herausfand, so etwas wie die panamesische, gutartige Variante der furchteinflößenden vagina dentata der Mythologie war. Die Vagina dieser Negerin kastrierte keinen ihrer Kunden, den Tagelöhnern zufolge, sondern traktierte sie mit zärtlichen Bissen, und dieses unerwartete Gekitzel verschaffte ihnen höchsten Genuß. Neugierig geworden, reihte auch er sich am Zahltag in die Schlange ein, wie die anderen Arbeiter seines Trupps, aber er bemerkte nichts Außergewöhnliches am Geschlecht der Negerin. Du erinnertest dich an den mächtigen Dunsthauch ihres schweißbedeckten Körpers, an die warme Gastfreundschaft ihres Bauches, ihrer Schenkel und Brüste. Hatte sie dich mit der unaussprechlichen Krankheit angesteckt? Der Verdacht nagte an ihm seit den verzehrenden Fieberanfällen auf Martinique, die ihn fast umgebracht hätten. Dieser panamesischen Negerin verdanktest du, daß dein Sehvermögen geschwächt war, daß dein Herz versagte, daß deine Beine sich mit Pusteln bedeckt hatten? Der Gedanke machte ihn traurig, und plötzlich weinte er um Aline: Du hattest sieseit so vielen Jahren nicht gesehen, und du würdest sie niemals wiedersehen, denn deine Tochter war in Dänemark gestorben, hinweggerafft von einer Lungenentzündung, als sie sicher schon ein schönes dänisches Fräulein war und Französisch vermutlich genauso schlecht sprach wie Pau’ura. Und jetzt starbst du hier, auf dieser kleinen verlorenen Südsee-Insel: Tahiti-nui. Und dann träumte er von seinem Gefährten und Freund Charles Laval. Du hattest ihn in der guten Zeit in Pont-Aven kennengelernt, und er hatte dich nach Panama und Martinique begleitet, auf der Suche nach dem Paradies. Doch dort befand es sich nicht; du und Charles, ihr wart eher in der Hölle gelandet. Charles bekam Gelbfieber und versuchte, sich umzubringen. Doch warum jetzt Mitleid mit Charles Laval haben, Koke? Hatte er sich nicht von der Seuche erholt? Hatte er seinen Selbstmordversuch nicht überlebt? War er nicht nach Frankreich zurückgekehrt, um seine Abenteuer zu erzählen, wie ein Kreuzritter, der nach der Eroberung von Jerusalem wieder Heimatboden betritt? Hatte er sich nicht einen annehmbaren Ruf als Maler gemacht? Und vor allem, hatte er nicht die schöne, zarte, ätherische Madeleine geheiratet, die Schwester von Emile Bernard, in die du damals in der Bretagne verliebt gewesen warst? Plötzlich wurde sein Traum zum Alptraum. Er erstickte. Etwas Zähflüssiges, Heißes stieg seine Speiseröhre hinauf und verschloß seinen Hals. Du konntest es nicht ausspucken. Lange Zeit lag er so da, gequält, nach Luft ringend, sich windend, von Angst gepackt. Als er die Augen öffnete, hatte er sich erbrochen, und eine Reihe roter Ameisen zog über seine Brust, an den Rändern des Erbrochenen entlang.
    Warst du lebendig? Du warst lebendig. Wenn auch verwirrt, benommen, beschämt und so kraftlos, daß du nicht einmal die Arme heben konntest. Der Abend dämmerte herauf, und er erahnte, in der Ferne, das letzte Aufflammen des Sonnenuntergangs. Ab und zu verlor er das Bewußtsein, und eine Reihe von Bildern zog durch seinen Kopf.

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