Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
eingeweihten Schwester Pförtnerin offengelassen worden war. Dort erwartete sie Dominga. Sie und die Domestiken legten die Leiche in die kleine Nische, in der die Nonne schlief. Sie entkleideten die Indiofrau und zogen ihr Domingas Ordensgewand und ihr Skapulier an. Sie übergossen die Leiche mit Öl und zündeten sie an, wobei sie dafür sorgten, daß die Flammen das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellten. Bevor sie flohen, brachten sie die Zelle in Unordnung, um dem vorgeblichen Unfall mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen.
    Von ihrem Versteck in dem gemieteten Zimmer aus verfolgte Dominga, wie die Nonnen von Santa Teresa die Totenmesse abhielten, bevor sie sie auf dem an den Gemüsegarten angrenzenden Friedhof begruben. Es hatte geklappt! Die junge Ex-Nonne suchte aus Angst vor ihrer Mutter keine Zuflucht bei sich zu Hause, sondern bei einem Onkel und einer Tante, die ihr als Kind große Zuneigungentgegengebracht hatten. Diese, entsetzt angesichts der Verantwortung, liefen zum Bischof Goyeneche und verrieten ihm die unglaubliche Geschichte. Das war nun zwei Jahre her, und der Skandal war noch immer nicht vergessen. Flora fand die Stadt in Befürworter und Gegner Domingas gespalten, die, nachdem Onkel und Tante sie aus dem Haus geworfen hatten, Unterschlupf bei einem ihrer Brüder auf einem kleinen Landgut in Chuquibamba fand, wo sie zu einer anderen Art von Klausur verurteilt lebte, während ihr Fall seinem gesetzlichen und kirchlichen Gang folgte.
    Empfand sie Reue? Flora begab sich nach Chuquibamba, um es herauszufinden. Nach einer mühsamen Reise durch die Andenausläufer erreichte sie das schlichte kleine Haus, das Dominga als weltliches Gefängnis diente. Diese hatte nichts dagegen einzuwenden, ihre Kusine zu empfangen. Sie wirkte sehr viel älter als fünfundzwanzig. Leid, Angst und Ungewißheit hatten ihre gemeißelten Gesichtszüge mit den hervorstehenden Wangenknochen verstört; ein nervöses Zittern ließ ihre Unterlippe erbeben. Sie war einfach gekleidet; ihr geblümtes Bäuerinnenkleid war am Hals und an den Handgelenken geschlossen; ihre Hände, mit kurzgeschnittenen Nägeln, hatten Schwielen von der Landarbeit. In ihren tiefen, ernsten Augen lag etwas Ausweichendes und Ängstliches, als sei sie ständig auf der Hut vor einer Katastrophe. Sie sprach sanft, nach Worten suchend, immer in der Furcht, einen Fehler zu begehen, der ihre Situation verschlimmern konnte. Doch als sie auf Drängen Floras über ihren Fall sprach, war sie von unbeugsamer Festigkeit. Sie hatte schlecht gehandelt, ohne Zweifel. Doch was hätte sie anderes tun können, um aus diesem Gefängnis zu fliehen, gegen das ihre Seele, ihr Verstand jede Sekunde ihres Lebens rebellierten? Sich der Verzweiflung ergeben? Verrückt werden? Sich umbringen? Das hätte Gott von ihr erwartet? Am traurigsten machte sie, daß ihre Mutter sie seit ihrer Abtrünnigkeit als tot betrachtete, wie sie ihr hatte ausrichten lassen. Was warenihre Pläne? Sie träumte davon, daß dieser Prozeß, diese Verwicklungen vor Gericht und vor der Kurie, endlich ein Ende fänden und sie nach Lima gehen könnte, um dort anonym zu leben, sei es auch als Dienstmädchen, aber in Freiheit. Beim Abschied flüsterte sie Flora ins Ohr: »Bete für mich.«
    Wie mochte es Dominga Gutiérrez in diesen elf Jahren ergangen sein? Lebte sie endlich fern von ihrer Heimat Arequipa, wo sie immer eine umstrittene Figur und Gegenstand öffentlicher Neugier sein würde? Hatte sie ihrem Wunsch gemäß nach Lima reisen und dort unsichtbar werden können? Und vielleicht erfahren, wie liebevoll und solidarisch du ihre Geschichte in den Fahrten einer Paria beschrieben hattest? Du würdest es nie wissen, Florita. Seitdem Don Pío Tristán deine Memoiren in Arequipa öffentlich verbrennen ließ, hattest du nie wieder einen Brief von den Bekannten und Verwandten erhalten, denen du einst bei deinem peruanischen Abenteuer begegnet warst.
    Während des Besuches auf der Schiffswerft in Toulon, für den sie einen ganzen Tag brauchte, hatte Flora abermals Gelegenheit, wie einst in England, die Gefängniswelt aus der Nähe zu sehen. Es war nicht die Art Gefängnis, die deine Kusine Dominga gekannt hatte, sondern etwas Schlimmeres. Die Tausende von Gefangenen, die in den Anlagen der Werft Zwangsarbeit leisteten, trugen Ketten an den Knöcheln, die vielen von ihnen die Haut abgescheuert und mit Grind bedeckt hatten. Nicht nur die Ketten unterschieden sie von den Arbeitern, mit denen zusammen sie in

Weitere Kostenlose Bücher