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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Werkstätten und auf Baustellen arbeiteten; auch die gestreiften Kittel, die sie trugen, und die Mützen, deren Farbe die ihnen auferlegte Strafe anzeigte. Es war schwer, angesichts der Zwangsarbeiter mit grüner Mütze, was lebenslänglich bedeutete, nicht zu schaudern. Wie Dominga wußten auch diese armen Teufel, daß sie, es sei denn, sie würden fliehen, für den Rest des Lebens unter der Aufsicht bewaffneter Wächter in dieser abstumpfenden Routineleben mußten, bis der Tod sie endlich von diesem Alptraum erlösen würde.
    Wie in den englischen Gefängnissen überraschte sie auch hier die große Menge von Gefangenen, die durch bloßen Augenschein als Geisteskranke zu erkennen waren, elende Gestalten, die unter Kretinismus, Wahnvorstellungen und anderen Formen von Irresein litten. Sie schauten dich verwirrt an, mit offenem Mund, aus dem Speichelfäden hingen, und mit den glasigen, abwesenden Augen des Schwachsinnigen. Viele hatten vermutlich seit langer Zeit keine Frau gesehen, nach dem Ausdruck von Ekstase oder Schrecken zu urteilen, mit dem sie Flora vorbeigehen sahen. Einige Irre führten die Hand an ihr Geschlecht und begannen, mit gleichsam animalischer Natürlichkeit zu masturbieren.
    War es gerecht, daß Geistesschwache, Zurückgebliebene und Verrückte wie geistig normale Personen gerichtet und verurteilt wurden? War es nicht eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit? Wie konnte ein Geisteskranker für seine Handlungen verantwortlich sein? Viele dieser Zwangsarbeiter hätten in Irrenhäusern untergebracht sein müssen, statt hier zu arbeiten. Wenn sie jedoch an die psychiatrischen Anstalten in England dachte und daran, wie die Irren dort behandelt wurden, dann war es besser, als Verbrecher verurteilt zu sein. Das war ein Thema, über das man nachdenken und für das man eine Lösung in der künftigen Gesellschaft suchen sollte, Florita.
    Die Offiziere der Werft von Toulon hatten sie davor gewarnt, sich auf Gespräche mit den Gefangenen oder Arbeitern einzulassen, denn es könnten unangenehme Situationen entstehen. Doch Flora, ihrem Wesen treu, näherte sich den Gruppen, stellte Fragen über die Arbeitsbedingungen, über die Beziehung zwischen Zwangsarbeitern mit Ketten und normalen Arbeitern, und sah sich plötzlich zur Verwirrung der beiden Marineoffiziere und des zivilen Beamten, die sie begleiteten, unter freiem Himmel in eine hitzige Debatte über die Todesstrafe verwickelt. Sie verteidigtedie Abschaffung der Guillotine als eine gerechte Maßnahme und verkündete, daß die Arbeiterunion sie verbieten werde. Viele Arbeiter protestierten wütend. Wenn jetzt, wo die Guillotine existierte, so viele Diebstähle und Verbrechen begangen wurden, was wäre dann erst, wenn das Hemmnis verschwände, das die Todesstrafe für die Verbrecher darstellte? Die Debatte wurde possenhaft unterbrochen, als eine Gruppe von Irren, angezogen von den streitenden Stimmen, sich an ihr zu beteiligen suchte. Erregt, wild gestikulierend und hüpfend, redeten sie alle auf einmal, einer unsinniger als der andere, oder sangen und tanzten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, belacht von den anderen, bis die Wächter mit drohend geschwungenen Stöcken wieder Ordnung herstellten.
    Für Flora war die Erfahrung überaus nützlich. Etliche Arbeiter interessierten sich aufgrund ihrer Ausführungen während des Besuches in der Werft für die Arbeiterunion und fragten sie, wo sie ungestört mit ihr sprechen könnten. Von diesem Tag an traf sich Flora zur Überraschung ihrer saintsimonistischen Freunde, die lediglich zwei Begegnungen mit einer Handvoll Bürger für sie hatten organisieren können, zwei- oder dreimal am Tag mit Gruppen von Arbeitern; sie kamen voll Neugier, um dieser seltsamen Person in Röcken zuzuhören, die entschlossen war, universelle Gerechtigkeit in einer Welt ohne Ausbeuter und ohne Reiche zu schaffen, in der unter anderen exzentrischen Neuerungen die Frauen vor dem Gesetz, in der Familie und sogar bei der Arbeit die gleichen Rechte haben sollten wie die Männer. Der Pessimismus, mit dem sie in dieser Stadt der Militärs und der Verbrecher eingetroffen war, verwandelte sich in Begeisterung, die sogar ihre Beschwerden linderte. Sie fühlte sich kräftig wie in ihren besten Zeiten. Ihr Tag war vom Morgengrauen bis Mitternacht mit frenetischer Aktivität ausgefüllt. Während sie sich auskleidete – ach, dieses erstickende Korsett, gegen das du in deinem Roman Méphis gewettert hattest und das in der künftigen

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