Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
Terrasse nieder und bestellte Absinth. Wie alt war er geworden, seit Pierre Levergos ihn nach seiner Rückkehr aus Paris, im September 1895, kennengelernt hatte! In diesen fünf Jahren war Paul um zehn oder mehr Jahre gealtert. Er war nicht mehr der stolze Kraftmensch wie einst, sondern ein alter, leicht gebeugter Mann, dessen Haar voller weißer Strähnen war. In seinem von Falten zerfurchten Gesicht mit dem angegrauten Bart funkelte eine aggressive Bitterkeit. Sogar die Nase sah aus, als sei sie noch schiefer und krummer geworden, wie ein morsches Stück Rebholz. Ab und zu zog er Grimassen, die Schmerz oder Empörung ausdrücken mochten. Seine Hände zitterten wie bei einem Gewohnheitstrinker.
    Pierre Levergos fürchtete, Paul könnte ihn über seine Rede befragen, aber er hatte Glück, denn weder solange sie im Hafen waren noch später, auf der Rückfahrt nach Punaauia,oder am Abend, während sie unter freiem Himmel aßen und zusahen, wie Pau’ura mit dem kleinen Emile spielte, erwähnte Paul das Thema, das ihn in der letzten Zeit so obsessiv beschäftigte: die Politik. Nichts dergleichen. Er redete ohne Pause über Religion. Wahrhaftig, Koke, du würdest niemals aufhören, die Leute zu verblüffen. Jetzt, vor dem perplexen Pierre, sagte er, nach seinem Tod werde ihn die Menschheit als Maler und als religiösen Reformer in Erinnerung behalten.
    »Genau das bin ich«, sagte er im Brustton der Überzeugung. »Wenn der Aufsatz veröffentlicht wird, den ich gerade beendet habe, wirst du das verstehen, Pierre. In Der moderne Geist und der Katholizismus verweise ich die Katholiken im Namen des wahren Christentums auf ihren Platz.«
    Pierre Levergos kam aus dem Staunen nicht heraus. Zum Teufel. War das derselbe Paul, der in Les Guêpes verlangt hatte, man solle die protestantischen Lehrer aus den Schulen der Inseln entlassen und sie durch katholische Missionare ersetzen? Jetzt hatte er einen Aufsatz geschrieben, in dem er mit dem Katholizismus abrechnete. Kein Zweifel: Sein Hirn war verdorrt, und seine rechte Hand wußte nicht mehr, was die linke tat. Paul blieb bei seinem Thema: Früher oder später würde die Menschheit begreifen, daß le sauvage péruvien ein mystischer Künstler gewesen war und das religiöseste Bild der modernen Zeit Die Vision nach der Predigt , ein Bild, das er Ende Sommer 1888 in Pont-Aven, dem kleinen Dorf im bretonischen Finistère, gemalt hatte. Dieses Gemälde hatte in der modernen Kunst wieder das spirituelle und religiöse Element zum Leben erweckt, das seit seiner Glanzzeit im Mittelalter geschlummert hatte.
    Danach verstand Pierre Levergos kein Wort mehr von Kokes Monolog (er hatte viel getrunken, und seine Zunge war ziemlich schwer), in dem Personen, Dinge, Orte, Ereignisse auftauchten, die ihm nichts sagten. Sie mußten aus Erinnerungen stammen, die in dieser ruhigen Nacht ohneMond, Hitze und Insekten aus irgendeinem Grund in sein Bewußtsein traten.
    »Wir schreiben das Jahr 1900, nicht wahr?« Paul klopfte seinem Nachbarn leicht aufs Knie. »Ich rede vom Sommer 1888. Gerade einmal zwölf Jahre. Ein Sandkörnchen auf der Bahn, die Kronos zieht. Und doch ist es, als wären seither Jahrhunderte vergangen.«
    So empfand es dieser geschundene, kranke, erschöpfte und von Wut erfüllte Körper, den du mit deinen zweiundfünfzig Jahren durch das Leben schlepptest. Was für ein Unterschied zur Stattlichkeit deiner vierzig Jahre, als du trotz des Geldmangels und der daraus folgenden Entbehrungen und Widrigkeiten, die dich heimsuchten, seitdem du die Geschäfte für die Malerei aufgegeben hattest, einen unbesiegbaren Optimismus ausstrahltest, was deine Berufung und dein Talent, was die Schönheit des Lebens und die Religion der Kunst betraf, eine Gewißheit, die mit allen Hindernissen fertig wurde. Idealisiertest du die Vergangenheit nicht, Paul? In jenem Sommer 1888, bei deinem zweiten Aufenthalt in Pont-Aven, warst du nicht so kraftvoll. Nicht dein Körper zumindest, dein Geist vielleicht wohl. Der Körper litt noch unter den Folgen der Malaria und des Fiebers, die du dir in Panama zugezogen hattest, obwohl deine Rückkehr nach Frankreich, im November 1887, schon zehn Monate zurücklag. Jedenfalls hattest du Die Vision nach der Predigt gemalt, während du von einer fürchterlichen Ruhr geplagt wurdest und die im Magen angesammelte Galle dir stechende Schmerzen bereitete, bevor sie durch den Anus austrat, begleitet von lauten Fürzen, über die die ganze Pension Gloanec lachte. Wie du dich

Weitere Kostenlose Bücher