Das Paradies ist anderswo
und ihrem stolzen, herausfordernden Blick zu begegnen, um die Kraft ihrer Persönlichkeit zu spüren.
»Ich bin die wilde, die grausame, die schreckliche Doña Pancha, die Kinder bei lebendigem Leibe frißt«, scherzte die Marschallin mit harter, spröder Stimme. Sie war übertrieben elegant gekleidet und trug Ringe an allen Fingern, Ohrgehänge mit Diamanten und eine Perlenkette. »MeineFamilie hat mich gebeten, mich in Lima so zu kleiden, und ich mußte ihr den Gefallen tun. Aber in Wahrheit fühle ich mich wohler in Stiefeln, Uniformjacke und Hosen und auf dem Rücken eines Pferdes.«
Sie unterhielten sich freundlich an Deck, als Doña Pancha plötzlich blaß wurde. Ihre Hände, der Mund, ihre Schultern begannen zu zittern. Sie verdrehte die Augen, und auf ihre Lippen trat weißer Schaum. Escudero und die Damen ihrer Begleitung mußten sie in ihre Kabine tragen.
»Seit dem Desaster von Arequipa wiederholen sich die Anfälle jeden Tag«, berichtete Escudero ihr am Abend danach. »Und oft mehrmals am Tag. Sie war sehr betrübt darüber, daß sie nicht länger mit Ihnen plaudern konnte. Sie sagte, ich solle Sie einladen, morgen wieder aufs Schiff zu kommen.«
Flora kam wieder und sah sich einem Wrack gegenüber, einem Gespenst mit blutleeren Lippen, eingefallenen Augen und zitternden Händen. In einer einzigen Nacht war sie um Jahre gealtert. Sie hatte sogar Mühe zu sprechen.
Doch das war nicht ihre letzte Erinnerung an Lima. Es war der Besuch auf der Hacienda Lavalle, der größten und reichsten der Region, zwei Meilen von der Hauptstadt entfernt. Der Besitzer, Señor Lavalle, ein reizender Mann mit exquisiten Umgangsformen, plauderte in gutem Französisch mit ihr. Er zeigte ihr die Zuckerrohrpflanzungen, die Wassermühlen, wo das Rohr gemahlen wurde, die Kessel der Raffinerie, wo der Zucker von der Melasse getrennt wurde. Flora wollte um jeden Preis erreichen, daß er von seinen Sklaven sprach. Erst am Ende des Besuchs berührte er das Thema:
»Der Mangel an Sklaven ruiniert uns Landwirte«, klagte er. »Stellen Sie sich vor, ich hatte tausendfünfhundert, und mir bleiben kaum mehr als neunhundert. Durch ihre mangelnde Sauberkeit, ihre Nachlässigkeit, ihre Faulheit und ihre barbarischen Sitten werden sie krank und sterben wie die Fliegen.«
Flora wagte anzudeuten, daß es vielleicht ihre elendeExistenz und ihre Unwissenheit infolge des totalen Mangels an Bildung waren, die erklärten, warum die Sklaven so zu Krankheiten neigten.
»Sie kennen die Neger nicht«, erwiderte Señor Lavalle. »Sie lassen ihre Kinder sterben, so faul sind sie. Ihre Trägheit kennt keine Grenzen. Sie sind noch schlimmer als die Indios. Ohne Peitsche sind sie zu nichts zu bewegen.«
Flora konnte sich nicht länger beherrschen. Sie rief aus, die Sklaverei sei eine menschliche Verirrung, ein Verbrechen gegen die Zivilisation und würde früher oder später auch in Peru abgeschafft, wie schon in Frankreich.
Señor Lavalle musterte sie verwirrt, als entdeckte er plötzlich eine andere Person an seiner Seite.
»Schauen Sie sich an, was in der ehemaligen französischen Kolonie Santo Domingo geschehen ist, seit die Sklaven befreit wurden«, antwortete er schließlich mit einem gewissen Unbehagen. »Das absolute Chaos und die Rückkehr zur Barbarei. Dort fressen die Neger sich gegenseitig auf.«
Und um ihr zu zeigen, wie weit es diese Leute treiben konnten, führte er sie zu den Verliesen der Hacienda. In einer halbdunklen Zelle, deren Boden mit Stroh bedeckt war – wie der Verschlag irgendeines Tieres –, zeigte er ihr zwei junge, völlig nackte Negerinnen, die an die Wand gekettet waren.
»Warum, glauben Sie, sind sie hier?« fragte er sie in triumphierendem Ton. »Diese Ungeheuer haben ihre eigenen neugeborenen Töchter umgebracht.«
»Ich kann sie gut verstehen«, erwiderte Flora. »An ihrer Stelle hätte ich meiner Tochter den gleichen Gefallen getan. Ich hätte sie, und sei es auch durch den Tod, von einem Höllenleben als Sklavin befreit.«
Begannst du dort, Florita, auf dieser Zuckerrohrplantage vor den Toren Limas, im Angesicht des französisch gesinnten, die Sklaverei verteidigenden Feudalherrn aus Lima, deine Laufbahn als Agitatorin und Rebellin? Jedenfalls wärst du ohne diese Reise ins ferne Peru, ohne die dortgemachten Erfahrungen nicht das, was du heute warst. Was warst du heute, Andalusierin? Eine freie Frau, ja. Doch eine Revolutionärin, die auf der ganzen Linie gescheitert war. Zumindest hier, in Nîmes, in
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