Das Paradies ist anderswo
Koke bestens verstand.
Das Haus der Wonnen war in sechs Wochen fertig. Es bestand aus Holz, Schilfmatten und geflochtenem Stroh und hatte wie seine kleinen Häuser in Mataiea und Punaauiazwei Geschosse. Das untere, zwei parallele Würfel, die durch einen offenen Raum getrennt waren, der als Eßzimmer dienen würde, beherbergte die Küche und das Bildhaueratelier. Im oberen befanden sich unter einem kegelförmigen Strohdach das Maleratelier, das kleine Schlafzimmer und das Bad. Paul fertigte ein Holzschild für den Eingang, mit der Inschrift Maison du Jouir , und zwei hohe Paneele, die das Schild zu beiden Seiten senkrecht umrahmten, mit stilisierten nackten Frauen in wollüstigen Posen, Tieren und Pflanzendickicht und einer Reihe von Aufforderungen, die sowohl in der katholischen Mission (der größten) als auch in der kleinen protestantischen Mission von Hiva Oa Aufruhr verursachten: »Soyez mystérieuses« (»Seid geheimnisvoll«) und »Soyez amoureuses et vous serez heureuses« (»Gebt euch der Liebe hin und ihr werdet glücklich sein«). Seit Bischof Joseph Martin erfahren hatte, daß er so kühn gewesen war, sein Haus mit diesen Obszönitäten zu dekorieren, war er sein Feind geworden. Und als er erfuhr, daß sein Atelier außer einem Akkordeon, einer Gitarre und einer Mandoline an seinen Wänden fünfundvierzig pornographische Photographien mit den extravagantesten sexuellen Stellungen beherbergte, wetterte er in einer seiner Sonntagspredigten gegen ihn und verdammte ihn als böses Wesen, das die Marquesaner meiden sollten.
Paul lachte über die Wutanfälle des Bischofs, doch der annamitische Prinz gab ihm zu bedenken, daß die Feindschaft von Monseigneur Martin ihm Probleme bereiten könne, denn er sei nicht nur unermüdlich und einflußreich, sondern auch rachsüchtig. Sie trafen sich jeden Abend im Haus der Wonnen, das Koke gut mit Lebensmitteln und Getränken aus dem einzigen Kaufladen Atuonas, dem von Ben Varney, versorgt hatte. Er stellte zwei Diener ein, Kahui, einen halbchinesischen Koch, und einen maorischen Gärtner, Matahaba, dem er genaue Anweisungen gab, damit er auch hier die Sonnenblumen akklimatisierte, wie er selbst es in Punaauia getan hatte. Diese Sonnenblumenleuchteten schließlich in dem Garten, der das Haus der Wonnen umgab. Die Erinnerung an den verrückten Holländer verließ dich fast keinen Augenblick in deinen ersten Monaten in Atuona. Warum, Koke? Es war dir gelungen, ihn fünfzehn Jahre lang aus deinem Gedächtnis zu verbannen, und das war zweifellos ein Glück, denn die Erinnerung an Vincent bereitete dir Unbehagen, ängstigte dich und hätte dich in deiner Arbeit gelähmt. Doch hier, auf den Marquesas, weil du wenig maltest oder weil du dich müde und krank fühltest, konntest du nicht mehr vermeiden, daß das Bild des guten Vincent, des armen Vincent, des unerträglichen Vincent mit seiner Beflissenheit und seinen Obsessionen die ganze Zeit vor deinem inneren Auge stand. Und daß du die Ereignisse, kleinen Begebenheiten, Streitereien, Sehnsüchte, Träume dieser acht Wochen schwierigen Zusammenlebens in der Provence, vor fünfzehn Jahren, mit einer Klarheit wiedererlebtest, wie sie dir nicht bei Dingen vergönnt war, die nur wenige Tage zurücklagen und die du vollständig vergessen konntest. (Zum Beispiel ließest du dir von Ben Varney in einer Woche gleich zweimal die Geschichte erzählen, wie er nach einem Besäufnis in der Bucht der Verräter aufgewacht war und entdecken mußte, daß sein Walfangschiff ausgelaufen und er, ohne einen Centavo, ohne Papiere und ohne ein Wort Französisch oder Maori zu sprechen, hier gestrandet war.)
Jetzt empfandest du Mitgefühl mit dem verrückten Holländer und dachtest sogar mit Zuneigung an ihn. Doch in jenem Oktober 1888, als du seinem Drängen und dem Druck Theo van Goghs nachgabst, der dich bat, auf die Appelle seines Bruders zu hören, und nach Arles gingst, um mit ihm zusammenzuleben, hattest du ihn am Ende gehaßt. Armer Vincent! Dein Kommen und die fixe Idee, daß ihr beiden die Pioniere der Künstlergemeinschaft sein würdet – ein wahres Kloster, ein Eden im Kleinformat –, hatten ihn mit so großen Hoffnungen erfüllt, daß das Scheitern seines Plans seine Gesundheit ruinierte, ihn in den Wahnsinn trieb und in den Tod.
Unter den alptraumhaften Reisen, die Paul in seinem Leben gemacht hatte, nahmen die fünfzehn Stunden Zugfahrt mit sechsmaligem Umsteigen von Pont-Aven in der Bretagne nach Arles in der Provence einen
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