Das Paradies ist anderswo
1826 verkündet hatte, auf den Mäzen zu warten, den reichen, aufgeklärten Kapitalisten, der zu ihm kommen und ihm erklären würde, daß er bereit sei, das erste Phalanstère , die Keimzelle der künftigen glücklichen Menschheit, zu finanzieren. Deine Augen füllten sich mit Tränen, wenn du daran dachtest, daß Charles Fourier mit seinem unzerstörbaren Glauben an das Gute im Menschen von 1826 bis zum Vorabend seines Todes, am 10. Oktober 1837, jeden Tag von zwölf bis zwei in seiner Wohnung auf den Besucher gewartet hatte, der niemals kam. Gab es etwas Erbarmungswürdigeres als dieses lange, nutzlose, elfjährige Warten?
Die Schüler Fouriers, angefangen bei Victor Considérant,dem Direktor von La Phalange , dachten nicht so. Heute noch, 1844, sieben Jahre nach dem Tod des Meisters, waren sie imstande, an Kapitalisten zu glauben, die großherziger Taten fähig waren. Großherzig? Wohl eher selbstmörderisch. Denn sollte das System der Phalanstères triumphieren, wäre dies das Ende des Kapitalismus. Dazu würde es aber nicht kommen, und du, Florita, verstandest genau, warum, trotz deines geringen Wissens. Die Kapitalisten mochten böswillig und egoistisch sein, aber sie wußten, was gut für sie war. Sie wären nie bereit, das Schafott zu finanzieren, auf dem man ihnen die Köpfe abschneiden würde. Deshalb glaubtest du nicht mehr an die Fourieristen, deshalb hattest du Mitleid mit ihnen. Dennoch pflegtest du ein gutes Verhältnis zu Victor Considérant, der seit 1836 Briefe und Artikel von dir in La Phalange veröffentlichte, die zuweilen sehr kritisch mit der Zeitschrift selbst umgingen. Und er gab dir, obwohl er wußte, daß du nicht mehr auf ihrer Seite warst, Briefe und Empfehlungen für diese Reise durch das Innere Frankreichs.
Wenn Doktor Amador, der Homöopath von Montpellier, den Flora in dieser Woche mehrmals sah, ihre harte Kritik an den Fourieristen und Saintsimonisten hörte, ihre Vorwürfe, sie seien »schwach« und »verbürgerlicht«, spottete er über ihren »aufrührerischen Geist«. Flora spürte deutlich, daß der Spanier – wenn er sprach, strich er sich über die gepflegten grauen Koteletten, die bis zu seinem Unterkiefer reichten – sich zu ihr hingezogen fühlte. Ständig schmeichelte er dir, Andalusierin. Diese herzliche Beziehung fand jedoch ein ziemlich jähes Ende an dem Tag, an dem du durch Amador selbst erfuhrst, daß er in seinem Unterricht an der Medizinischen Fakultät der Universität von Montpellier nicht Homöopathie lehrte, die von der Akademie nicht akzeptiert wurde, sondern die allopathische oder traditionelle Medizin, für die er, wie er dir unmißverständlich erklärt hatte, eine Verachtung empfand, wie man sie veralteten Dingen, verstaubten Ideen entgegenbringt.
»Wie könnnen Sie etwas lehren, an das Sie nicht glauben, und noch dazu Geld dafür nehmen?« fuhr ihn eine empörte Madame-la-Colère an. »Das ist inkonsequent und unmoralisch.«
»Schön, schön, seien Sie nicht so streng«, wiegelte er ab, überrascht angesichts dieser vehementen Reaktion. »Beste Freundin, ich muß leben. Man kann nicht immer vollkommen konsequent und moralisch im Leben sein, es sei denn, man habe die Berufung zum Märtyrer.«
»Die muß ich wohl haben«, erklärte Madame-la-Colère. »Ich versuche immer, gradlinig zu handeln und meinen Überzeugungen zu folgen. Mir würde die Zunge abfallen, wenn ich Dinge lehren müßte, an die ich nicht glaube, nur, um ein Gehalt zu rechtfertigen.«
Es war das letzte Mal, daß sie sich sahen. Doch obwohl er zweifellos verletzt war durch Floras Kritik, schickte Doktor Amador ihr einen Tischler ins Hôtel du Midi. André Médard war ein aufgeweckter, sympathischer junger Mann. Er hatte eine mutualistische Arbeitergesellschaft gegründet, zu der er sie einlud.
»Warum haben Sie beschlossen, in Montpellier nicht zu sprechen, Madame?«
»Weil man mir versichert hat, ich würde hier keinen einzigen intelligenten Arbeiter finden«, provozierte Flora ihn.
»Hier gibt es vierhundert intelligente Arbeiter, Madame«, sagte der junge Mann lachend. »Ich bin einer davon.«
»Mit vierhundert intelligenten Arbeitern würde ich die Revolution in ganz Frankreich machen, mein Lieber«, erwiderte Flora.
Das Treffen, das André Médard für sie organisierte, mit sechzehn Männern und vier Frauen, verlief ausgezeichnet. Sie waren uninformiert, aber neugierig, hörten ihr erwartungsvoll zu und zeigten Interesse für die Arbeiterunion und die Arbeiterpaläste.
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