Das Paradies ist anderswo
hielt, und schoß. Die Kugel, die dir durch eine Achsel in den Körper drang und in deiner Brust steckenblieb, warf dich zu Boden. Als Chazal sich anschickte, mit der zweiten Pistole zu schießen, und auf dich zielte, gelang es dir, aufzustehen und in einen nahen Laden zu flüchten. Dort wurdest du ohnmächtig. Später erfuhrst du, daß Chazal, dieser Schwächling, nicht mehr dazu gekommen war, mit der zweiten Pistole zu schießen, und sich widerstandslos der Polizei ergeben hatte. Jetzt büßte er die zwanzig Jahre Zwangsarbeit ab, zu denen man ihn verurteilt hatte. Du hattest dich von ihm befreit, Florita. Für immer. Die Justiz gestattete dir sogar, Alines und Ernests Familiennamen Chazal durch den Namen Tristan zu ersetzen. Eine späte, doch echte Befreiung. Nur daß Chazal dir als Erinnerung diese Kugel hinterlassen hatte, die dich jeden Augenblick, wenn sie sich ein winziges Stück auf dein Herz zubewegte, töten konnte. Doktor Récamier und Doktor Lisfranc war es trotz aller Bemühungen, trotz der Sonden, die sie dir einführten, nicht gelungen, das Geschoß zu entfernen. Der Mordversuch machte dich zur Heldin, und während der ganzen Zeit deiner Genesung war die kleine Wohnung in der Rue du Bac ein gesellschaftlicher Modeort, an dem sich die Pariser Berühmtheiten von George Sand bis Eugène Sue, von Victor Considérant bis Prosper Enfantin einfanden, um sich nach deiner Gesundheit zu erkundigen. Du warst berühmter als eine Opernsängerin oder als eine Zirkusartistin, Florita. Doch was sich wiedas Ende deiner Mißgeschicke, wie eine friedvolle, erfolgreiche Etappe deiner Existenz ausnahm, wurde getrübt vom plötzlichen Tod des kleinen Ernest-Camille, der dich wie ein Erdbeben erschütterte.
Doktor Récamier und Doktor Lisfranc hatten sich so freundlich und aufmerksam um dich bemüht, daß du vor dem Antritt der Reise, auf der du die Arbeiterunion bekanntmachen wolltest, ein eigenhändiges Testament verfaßtest, in dem du ihnen im Todesfall deinen Körper für ihre klinischen Forschungen vermachtest. Deinen Kopf bestimmtest du für die Phrenologische Gesellschaft von Paris, zur Erinnerung an die Sitzungen, an denen du teilgenommen und bei denen diese neue Wissenschaft einen sehr günstigen Eindruck auf dich gemacht hatte.
Obwohl die Ärzte dir empfahlen, mit Rücksicht auf das kalte Metall in deiner Brust ein ruhiges Leben zu führen, erreichte deine Aktivität schwindelerregende Ausmaße, kaum daß du aufstehen und aus dem Haus gehen konntest. Jetzt warst du berühmt, und die Salons stritten sich um dich. Wie zuvor in Arequipa nahmst du jetzt am mondänen Pariser Leben teil: Empfänge, Galas, Teegesellschaften, Plauderrunden. Du warst sogar bereit, dich zum Maskenball in der Oper schleppen zu lassen, der dich durch seine Pracht erstaunte. An jenem Abend lerntest du eine schlanke Frau mit bohrendem Blick kennen – eine Schönheit mit gotischen Zügen –, die dir die Hand küßte und in zärtlichem Tonfall sagte: »Ich bewundere und beneide Sie, Madame Tristan. Ich heiße Olympe Maleszewska. Können wir Freundinnen sein?« Einige Zeit später solltet ihr es sein, und in welch intimer Weise.
Wenn du nicht wärst, wie du bist, Florita, hättest du dank der Popularität, die du einige Zeit durch die Veröffentlichung der Fahrten einer Paria und durch den Mordversuch genießen konntest, eine große Dame werden können. Du wärst jetzt eine George Sand, eine umschwärmte, geachtete Frau von Welt, die nicht nur ein reges gesellschaftliches Leben führen, sondern überdies in ihrenSchriften die Ungerechtigkeit anprangern würde. Eine geachtete Salonsozialistin, das wärst du jetzt. Doch zu deinem Glück und auch zu deinem Unglück warst du das nicht. Dir war sofort klar, daß eine Sirene der Pariser Salons niemals imstande wäre, die soziale Wirklichkeit auch nur ein Stück weit zu verändern oder den geringsten Einfluß in politischen Dingen auszuüben. Es galt zu handeln. Doch wie?
Damals glaubtest du, daß Schreiben, daß Ideen und Worte genügten. Wie sehr du dich täuschtest. Die Ideen waren wesentlich, doch wenn ihnen nicht das entschlossene Handeln der Opfer – Frauen und Arbeiter – folgte, würden die schönen Worte verpuffen und niemals die Pariser Kaffeehäuser verlassen. Aber vor acht, neun Jahren glaubtest du noch, daß das gedruckte Wort, das anklagende Wort, ausreichen würde, um die gesellschaftliche Veränderung in Gang zu setzen. Deshalb schriebst du aus einem inneren Drang heraus, mit
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