Das Paradies ist anderswo
ihn zu verlassen, sich vor aller Welt in Artikeln und Büchern ihrer würdelosen Taten rühmte – Heim und Herd zu fliehen, durch Peru zu reisen, sich als ledig auszugeben und von anderen Männern hofieren zu lassen – und ihn obendrein noch verleumdete und vor der Öffentlichkeit als unzüchtiges, brutales Wesen darstellte.
In der Tat, André Chazal hatte sich gerächt. Zunächst, indem er sich an der armen Aline verging, in der Gewißheit, daß dieses Verbrechen die Mutter genauso treffen würde wie die Tochter. Sie spürte erneut den Schwindel jenes Morgens im April 1837, als sie Alines kleinen Brief in Händen hielt. Das Mädchen hatte ihn einem hilfsbereiten Wasserträger übergeben, der ihn Flora persönlich überbrachte. Völlig außer sich, versuchte sie, ihre Kinder zu retten, und zeigte den inzestuösen Vergewaltiger bei der Polizei an. Dieser attackierte sie auf der Straße, bevor er von den Polizeibeamten gefaßt wurde. Doch dank des rhetorischen Geschicks seines Anwalts Jules Favre ging es bei dem Prozeß unglaublicherweise – war es zu fassen, Florita? – nicht etwa um die Vergewaltigung und den Inzest ihres Ehemannes, sondern um die anormale, moralisch zweifelhafte und sich unschicklich betragende Person Flora Tristans! Das Gericht erklärte, die Vergewaltigung sei »nicht bewiesen«, und ordnete an, daß die Kinder in einem Internat unterzubringen seien, wo ihre Eltern sie getrennt besuchen durften. So sah die Gerechtigkeit für Frauen in Frankreich aus, Florita. Deshalb unternahmst du diesen Kreuzzug, Andalusierin.
Das Erscheinen der Fahrten einer Paria verschaffte ihr literarisches Ansehen und etwas Geld – innerhalb kurzer Zeit wurden zwei Auflagen verkauft –, aber auch Probleme. Der Skandal, den das Buch in Paris auslöste – keine Frau hatte jemals ihr Privatleben mit solcher Offenheitausgebreitet noch sich zu ihrem Status als Paria bekannt oder ihre Rebellion gegen die Gesellschaft, die Konventionen und die Ehe verkündet, wie du es getan hattest –, war nichts im Vergleich zu dem Aufruhr in Peru, als die ersten Exemplare nach Lima und Arequipa gelangten. Du wärst gerne dort gewesen, hättest gerne gesehen und gehört, was diese erbosten Herrschaften sagten, als sie, die Französisch lesen konnten, sich so schonungslos dargestellt sahen. Es amüsierte dich, daß in Lima die Bürger dein Bild im Teatro Central verbrannten und daß dein Onkel Don Pío Tristán den Vorsitz bei einer Zeremonie auf der Plaza de Armas in Arequipa führte, bei der symbolisch ein Exemplar der Fahrten einer Paria verbrannt wurde, wegen Verunglimpfung der guten Gesellschaft von Arequipa. Weniger amüsant war, daß Don Pío dir die kleine Rente entzog, von der du bisher gelebt hattest. Die Emanzipation war nicht gratis, Florita.
Das Buch hätte dich beinahe das Leben gekostet. André Chazal verzieh dir nicht das erbarmungslose Bild, das du von ihm gezeichnet hattest. Wochen und Monate plante er das Verbrechen. In seiner Höhle in Montmartre fanden sich Zeichnungen von Gräbern und Grabinschriften für »die Paria«, die das Datum der Veröffentlichung der Fahrten trugen. Im Mai dieses Jahres kaufte er zwei Pistolen, fünfzig Kugeln, Pulver, Blei und Kapseln, ohne sich die Mühe zu machen, die Quittungen zu vernichten. Fortan prahlte er in Lokalen vor befreundeten Lithographen damit, er werde sich auf eigene Faust »gegen diese Isebel« Recht verschaffen. Den kleinen Ernest-Camille nahm er einige Sonntage mit, damit er zusehen konnte, wie er vor einer Zielscheibe seine Pistolen ausprobierte. Den ganzen August 1838 sahst du ihn in der Nähe deiner Wohnung in der Rue du Bac herumstreichen. Obwohl du die Polizei benachrichtigtest, tat diese nichts, um dich zu beschützen. Am 10. September verließ André Chazal seine elende Behausung in Montmartre und ging äußerlich gelassen zum Mittagessen in ein kleines Restaurant, fünfzig Meter vondeinem Haus entfernt. Er aß in aller Ruhe, vertieft in die Lektüre eines Buches über Geometrie, das er dem Wirt des Lokals zufolge mit Anmerkungen versah. Um halb vier Uhr nachmittags, als du zu Fuß, benommen von der spätsommerlichen Hitze, nach Hause zurückkehrtest, erblicktest du in der Ferne Chazal. Du sahst ihn näher kommen, und du wußtest, was geschehen würde. Doch ein Anflug von Würde oder von Stolz hinderte dich daran, loszurennen. Du gingst weiter, mit hocherhobenem Kopf. Drei Meter von dir entfernt, hob André Chazal eine der beiden Pistolen, die er in Händen
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