Das Paradies ist anderswo
gingst du wie ein bretonischer Fischer gekleidet – Holzschuhe, Mütze, gestickte Weste, weites blaues Hemd – und hattest dich weniger durch deine Malerei als durch deine mitreißende Art, deinen Redefluß, deinen felsenfesten Glauben an dich selbst und zweifellos auch durch dein Alter in den Mentor des halben Dutzends junger Künstler verwandelt, die dort dank der Güte oder Dummheit der wunderbaren Witwe Gloanec Unterschlupf gefunden hatten. Du hattest denTiefpunkt überwunden, Paul. Jetzt galt es, Meisterwerke zu malen.
Zwei oder drei Tage später unterbrach Tohotama abermals Kokes Arbeit mit Ausrufen im Maori der Marquesaner, die er nicht verstand, außer dem Wort mahu , das irgendwo dazwischen auftauchte. In der Welt aus Schatten und Lichtkontrasten, in der er jetzt lebte, gewahrte er, daß Haapuani, von Neugier gepackt, den Platz verließ, an dem er posierte, und zu dem Bild trat, um herauszufinden, was der Grund für Tohotamas Erregung war. Der Grund war, daß er ihn nicht mit einem Pareo um die Taille oder nackt dargestellt hatte, sondern daß der Hexer auf dem Bild unter dem roten Umhang ein enges Kleid trug, das seinen schlanken Körper wie ein Handschuh umschloß, ein sehr kurzes Kleidungsstück, das seine wohlgeformten Frauenbeine entblößte. Haapuani betrachtete die Leinwand eine ganze Weile, ohne etwas zu sagen. Dann nahm er wieder die Pose ein, die Koke ihm gezeigt hatte.
»Du hast mir nichts über dein Porträt gesagt«, meinte Paul, nachdem er die minutiöse, unmögliche Arbeit wiederaufgenommen hatte. »Wie findest du es?«
»Du siehst überall mahus «, antwortete der Hexer ausweichend. »Wo es sie gibt und auch wo es sie nicht gibt. Du siehst den mahu nicht als etwas Normales, sondern als einen Teufel. Wie die Missionare, Koke.«
Stimmte das? Na ja, vor zwei Monaten war dir etwas Merkwürdiges passiert, als du Die barmherzige Schwester maltest, das Bild, für das Tohotama Modell gestanden hatte. Am Ende war nicht die Nonne zum Thema des Bildes geworden, sondern der Frau-Mann ihr gegenüber, was dir während der Arbeit daran kaum bewußt gewesen war. Warum diese Obsession für den mahu ?
»Warum sagst du mir nicht, wie du dein Porträt gefunden hast?« beharrte Koke.
»Das einzige, was ich sicher weiß, ist, daß ich nicht der da auf dem Bild bin«, antwortete der Maori.
»Das ist der Haapuani, den du in dir trägst«, erwiderteKoke. »Der sich in dir verstecken mußte, damit ihn die Geistlichen und die Gendarmen nicht entdecken. Auch wenn du es mir nicht glaubst, ich versichere dir, daß du das auf dem Bild bist. Nicht nur du. Der wahre Marquesaner, der im Verschwinden begriffen ist, von dem bald keine Spur mehr bleiben wird. In der Zukunft werden die Leute meine Bilder befragen, wenn sie wissen wollen, wie die Maori waren.«
Tohotama lachte, mit einem offenen, fröhlichen, sorglosen Lachen, das den Morgen aufheiterte, und auch Haapuani lachte, aber lustlos. Am Abend dieses Tages, als das Paar bereits gegangen und sein Nachbar zum Plaudern zu ihm gekommen war – er schaute mehrmals am Tag im Haus der Wonnen vorbei, um zu sehen, ob Koke etwas brauchte –, blieb Tioka lange in die Betrachtung des Bildes versunken. Um es besser sehen zu können, nahm er eine der Pechfackeln des Eingangs. Paul stellte ihm keine Frage. Nach einer Weile teilte sein gewöhnlich wortkarger Nachbar ihm seine Meinung mit:
»Auf vielen Bildern hast du die Frauen dieser Inseln mit Muskeln und Körpern von Männern gemalt«, sagte er verwirrt. »Aber auf diesem hast du das Gegenteil getan: Du hast Haapuani gemalt, als wäre er eine Frau.«
Wenn es stimmte, was Tioka sagte, dann war Der Hexer von Hiva Oa etwa so geworden, wie du ihn im Sinn gehabt hattest, obwohl du ihn fast die ganze Zeit blindlings gemalt hattest, mit kurzen Unterbrechungen, in denen die Helligkeit des Tages, deine Willensanstrengung oder der mitleidige kleine Gott deinen Blick klärten und du einige Minuten lang Einzelheiten korrigieren und die Farben verstärken oder abschwächen konntest. Nicht nur dein Sehvermögen versagte. Auch deine Hand. Manchmal war ihr Zittern so stark, daß du dich eine Weile aufs Bett legen mußtest, bis dein Körper sich beruhigte und diese unkontrollierbaren Muskelbewegungen aufhörten. Nur deine großen Werke hattest du in diesem Erregungszustand gemalt, Koke. War Der Hexer von Hiva Oa vielleicht einMeisterwerk? Wenn deine Augen das Bild vollständig sehen könnten, wäre es auch nur einige Sekunden, dann
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