Das Paradies ist anderswo
wüßtest du es. Doch du würdest immer im Zweifel sein.
Bei der nächsten Sitzung sprach Tohotama über das Bild. Warum warst du immer so an den mahus , den Frau-Männern, interessiert, Koke? Er gab ihr eine dumme Erklärung – »sie sind malerisch, auffällig, exotisch, Tohotama« –, doch die Frage ging ihm für den Rest des Tages im Kopf herum. Und in der Nacht, in seinem Bett, nachdem er ein wenig Obst gegessen, die Verbände der Beine gewechselt und ein paar in Wasser aufgelöste Tropfen Laudanum gegen den Schmerz genommen hatte, grübelte er weiter darüber nach. Warum, Koke? Vielleicht weil in dem scheuen, halb unsichtbaren, verfolgten mahu , der von Priestern und Pastoren wie eine Verirrung, wie eine Sünde verabscheut wurde, der letzte ungezähmte Wesenszug des wilden Maori fortlebte, von dem durch die Schuld Europas bald kein einziges Exemplar mehr übrigbliebe. Der ursprüngliche Marquesaner würde von der christlichen, westlichen Kultur geschluckt und verdaut werden. Von derselben Kultur, die du in Tahiti in Les Guêpes und Le Sourire so inbrünstig und wortreich und mit so vielen Übertreibungen und Verleumdungen verteidigt hattest, Koke. Verschluckt und verdaut, wie es schon dem Tahitianer widerfahren war. Der Norm unterworfen, was die Religion, die Sprache, die Moral und natürlich die Sexualität betraf. In sehr naher Zukunft würden die Dinge für die Bewohner der Marquesainseln so klar sein, wie sie es für jeden gläubigen, bürgerlichen Europäer waren. Es gab zwei Geschlechter, und das war genug, wozu mehr. Genau abgegrenzt und durch einen unüberwindlichen Abgrund getrennt: Mann und Frau, Männchen und Weibchen, Phallus und Vagina. In der Liebe und im Begehren war Ambivalenz, wie beim Glauben, ein Ausdruck von Barbarei und Laster und würdigte die Zivilisation ebenso herab wie der Kannibalismus. Der Frau-Mann, die Mann-Frau waren Abnormitäten, die man exorzieren mußte, wie Gottvateres mit Sodom und Gomorrha getan hatte. Sie waren arm dran, die wenigen mahus , die es noch auf dieser Insel gab! Die heuchlerischen Siedler und Kolonialbeamten stellten sie gern als Dienstboten an, denn sie besaßen einen guten Ruf als Köche, Wäscher, Hüter der Kinder oder des Hauses. Um sich jedoch nicht mit den Geistlichen anzulegen, verboten sie ihnen, sich wie Frauen zu schmücken und zu kleiden. Wenn die mahus sich Blumen ins Haar steckten, Armbänder um die Handgelenke und Fußschmuck um die Knöchel legten, sich wie Mädchen putzten und flüchtig so zu zeigen wagten, gewiß voller Furcht vor Entdeckung, dann ahnten sie nicht, daß sie das Todesröcheln einer Kultur waren. Die Tage der gesunden, spontanen, freien Art der Primitiven, sich mit allem anzunehmen, was sie in sich trugen, mit ihren Wünschen und Phantasien, waren gezählt. Der Hexer von Hiva Oa war ein Epitaph, Koke.
Trotz der Worte der alten, blinden Maorifrau, die sie zu dir gesagt hatte, während sie deinen vermummten Penis berührte, warst du ihnen näher als Leuten wie Monseigneur Martin oder dem Gendarmen Jean-Paul Claverie. Oder wie den durch Unwissen und Habgier verrohten Siedlern, denen du in Papeete als Söldner gedient hattest. Denn die Wilden konntest du verstehen. Du respektiertest sie. Du beneidetest sie. Während du für deine angeblichen Landsleute nur Verachtung übrig hattest. Zumindest einer Sache warst du dir sicher, Koke: Deine Malerei war nicht die eines modernen, zivilisierten Europäers. Niemand würde sich darüber täuschen. Obwohl du es schon früher vage erahnt hattest, wurde es dir mit absoluter Gewißheit in der Bretagne klar, zuerst in Pont-Aven, dann in Le Pouldu. Die Kunst mußte die enge Form, den beschränkten Horizont durchbrechen, in die sie die Künstler und Kritiker, die Akademiker und Sammler in Paris am Ende eingesperrt hatten: Sie mußte sich der Welt öffnen, mit den anderen Kulturen vermischen, sich durch andere Lüfte, andere Landschaften, andere Werte, andere Rassen, andere Überzeugungen, andere Lebensformen und Moralvorstellungenerneuern. Nur so könnte sie die schöpferische Kraft zurückgewinnen, die ihr in der verweichlichten, frivolen und kommerziell bestimmten Existenz der Pariser verlorengegangen war. Du hattest es getan, indem du in die Welt hinausgegangen warst, um das zu suchen und zu lernen, was Europa nicht kannte oder verleugnete, und dich an ihm zu berauschen. Du hattest einen hohen Preis dafür gezahlt, aber du bereutest es nicht, nicht wahr, Koke?
Du bereutest es nicht. Du warst
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