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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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nachlässig, daß es leicht war, sie abzuschütteln, wobei ihr die Zimmermädchen des Hotels zur Hilfe kamen, die sie durch ein Küchenfenster steigen ließen, das auf eine Sackgasse an der Rückseite des Gebäudes ging. So daß sie also trotz des Verbots weiterhin täglich Versammlungen mit den Arbeitern abhielt, unter größten Vorsichtsmaßnahmen und in der Furcht, bei einem dieser Treffen könnte, von irgendeinem Verräter gerufen, die Polizei auftauchen. Doch dazu kam es nicht.
    Zur gleichen Zeit führte sie intensive Untersuchungen zur sozialen Lage durch, besuchte Werkstätten, Krankenhäuser, Armenhäuser, Irrenhäuser, Waisenhäuser, Kirchen, Schulen und schließlich das Viertel der Prostituierten La Guillotière. Dorthin begleiteten sie zwei Fourieristen – sie hatten sich ihr gegenüber sehr anständig verhalten und ihr einen Anwalt besorgt, der sie vor dem Prokurator des Königs vertrat –, und dieses Mal ging sie nicht als Mann verkleidet, wie damals in London, sondern trug einen Umhang und einen leicht lächerlichen Hut, der ihr das Gesichtzur Hälfte bedeckte. Obwohl das Schauspiel nicht so ungeheuerlich und dantesk war wie in Londons Viertel Stepney Green, verlor sie die Fassung angesichts der Prostituierten, die sich an den Straßenecken und vor den Eingängen der Wirtshäuser und Bordelle mit heiteren Namen – Das Haus der Braut, Die warmen Arme – drängten. Sie fragte mehrere der jüngsten nach ihrem Alter: zwölf, dreizehn, vierzehn Jahre. Kleine unentwickelte Mädchen, die sich wie Frauen gebärdeten. Wie war es möglich, daß Männer erregt wurden von diesen Kindern, die nichts als Haut und Knochen waren, der Kindheit noch nicht entwachsen und ständig von Tuberkulose und Syphilis bedroht, wenn sie sich nicht schon längst damit angesteckt hatten? Es zerriß ihr das Herz; Wut und Traurigkeit machten sie stumm. Wie in London mischte sich auch hier das Monströse mit dem Komischen: Inmitten der allgemeinen Sittenlosigkeit spielten und krochen in den Freudenhäusern, auf dem Boden aus gestampfter Erde, zwischen den Prostituierten und den Freiern – darunter viele Arbeiter – Kinder von zwei, drei, vier Jahren herum, sich selbst überlassen, während die Mütter ihrer Arbeit nachgingen.
    Sie machte diese Besuche aus einer moralischen Verpflichtung heraus – was man nicht kannte, konnte man nicht reformieren –, aber mit großem Widerwillen. Seit der ersten Zeit ihrer Ehe mit André Chazal stieß alles Sexuelle sie ab. Schon bevor sie politische Bildung und soziale Sensibilität erworben hatte, war es ihr als eines der wirksamsten Instrumente für die Ausbeutung und Beherrschung der Frau erschienen. Deshalb hatte sie zwar keine Keuschheit oder mönchische Entsagung gepredigt, aber stets den Theorien mißtraut, die das sexuelle Leben, die Freuden des Körpers, als eines der Ziele der künftigen Gesellschaft glorifizierten. Dieses Thema hatte sie auch veranlaßt, sich von Charles Fourier zu distanzieren, dem sie gleichwohl Bewunderung und Zuneigung entgegenbrachte. Der Meister war ein seltsamer Fall; er hatte immer, zumindest nach außen hin, ein absolut bedürfnisloses Leben geführt. Er galtals Frauenfeind. Doch in seinem Entwurf der künftigen Gesellschaft, dem kommenden Eden, der Epoche der Harmonie, die auf die Zivilisation folgen würde, spielte das Sexuelle eine Hauptrolle. Es fiel ihr schwer, das zu akzeptieren. Das Ganze konnte in einem wahren Hexensabatt enden, trotz der guten Absichten des Meisters. Es war unnötig, absurd, unmöglich, den Geschlechtstrieb zum Angelpunkt der Gesellschaft zu machen, wie manche Fourieristen es beabsichtigten. In den Phalanstères sollte es nach dem Plan Fouriers junge Jungfrauen geben, die völlig auf sexuelle Betätigung verzichten würden, Vestalinnen, die in Maßen mit den Vestalen oder Troubadouren verkehren würden, und noch freiere Frauen, die Damoiselles , die sich den Damoiseaux Minstrels hingeben würden, und so weiter in einer Reihenfolge wachsender Freiheit und Exzesse – die Odalisken , die Fakiressen , die Bacchantinnen – bis hin zu den Bajaderen , die karitative Liebe praktizieren und sich der Alten, Invaliden, Reisenden und ganz allgemein der Personen annehmen würden, die ihres Alters, ihrer schlechten Gesundheit oder ihrer Häßlichkeit wegen von der gegenwärtigen Gesellschaft zur Masturbation oder zur Abstinenz verurteilt wurden. Obwohl alles in dieser Organisation frei und freiwillig wäre – jeder entschied, welchem sexuellen

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