Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
kommunistischen Lehren gewonnen hatte, wurde Flora mitten in einer hitzigen Auseinandersetzung ohnmächtig. Als sie die Augen aufschlug, war es früher Morgen. Sie hatte die Nacht in einer Weberwerkstatt verbracht, auf dem Boden liegend. Die Arbeiter, die dort schliefen, hatten sich die ganze Nacht abwechselnd um sie gekümmert, ihr die Hände gerieben, ihr die Stirn befeuchtet. Eine der Arbeiterinnen, Eléonore Blanc, war ihr schon von anderen Treffen bekannt. Flora war die Hingabe aufgefallen, mit der sie ihr zuhörte, und ihr wacher Geist. Etwas sagte ihr, daß diese noch junge Frau eine der Anführerinnen der Arbeiterunion in Lyon sein konnte. Sie lud sie zum Tee ins Hôtel de Milan ein. Sie unterhielten sich mehrere Stunden unter den gelassenen Blicken der mit ihrer Bewachung beauftragten Polizisten. Ja, Eléonore Blanc war eine außergewöhnliche Frau und würde dem Organisationskomitee der Arbeiterunion in Lyon angehören.
    Als der Untersuchungsrichter sie schließlich vorlud, war ihre Popularität in Lyon noch größer geworden. Die Leute umringten sie auf der Straße, und obwohl manche Bürger die Gesichter vor ihr verzogen und einige Bürgersfrauen sich nicht scheuten, ihr zuzurufen: »Machen Sie, daß Sie fortkommen, und lassen Sie uns in Frieden!«, grüßten die meisten sie wohlwollend. Vielleicht lag es an dieser Popularität, daß der Untersuchungsrichter, Monsieur François Demi, nach einer zwei Stunden dauernden Befragung – einer freundlichen Unterhaltung – beschloß, es bestehe kein Anlaß für einen Prozeß und die Polizei müsse ihr die beschlagnahmten Papiere zurückgeben.
    ›In diesen letzten Wochen war ich schlicht großartig‹, sagte sich Flora, als sie ihre Hefte, Briefe und Notizbücher entgegennahm, die Kommissar Bardoz persönlich ihr widerwillig aushändigte. Ja, Florita. In fünf Wochen in Lyon hattest du vor Hunderten von Arbeitern deine Ideen verfochten, deine sozialen Untersuchungen zur Ungerechtigkeit erweitert, ein Komitee mit fünfzehn Personen begründet,und auf Initiative der Arbeiter selbst war eine dritte Auflage von L’Union Ouvrière in Vorbereitung, die preiswert verkauft werden sollte, so daß sie auch den schmalsten Geldbeuteln zugänglich wäre.
    Ihr Wort erreichte sogar das Herz des Feindes: die Kirche. Ihr letztes Treffen in der Region war eine Überraschung für sie. Einige Geistliche, die unter dem Abt Guillemain de Bordeaux in einer Gemeinschaft in Oullins lebten, luden sie heimlich zu einem Besuch ein, weil sie mit ihr »viele Ideen teilten«. Sie folgte der Einladung aus Neugier, ohne von der Begegnung viel zu erwarten. Doch zu ihrem Erstaunen empfing sie im Schloß von Perron, in Oullins, eine Gruppe revolutionärer Mönche. Sie nannten sich selbst »die rebellischen Geistlichen«. Sie hatten Proudhon, Saint-Simon, Cabet und Fourier gelesen und diskutiert. Ihr geistiger Führer und Mentor war jedoch Pater Lamennais in seiner letzten Epoche, der vom Vatikan zensurierte Priester, Anhänger der Republik, Gegner und unerbittlicher Kritiker der Monarchie und der Bourgeoisie, Verfechter der Glaubensfreiheit und der sozialen Reformen. Wie Saint-Simon und wie Flora glaubten diese »rebellischen Geistlichen«, daß die Revolution Christus und mit ihm ein Christentum bewahren mußte, das nicht vom autoritären Denken der Kirche und von den Pfründen der Macht verdorben wäre. Der Abend verlief angenehm, und Flora sagte den rebellischen Geistlichen zum Abschied, auch für sie sei Platz in der Arbeiterunion, und riet ihnen halb im Scherz, halb im Ernst, sie sollten, da sie schon so viele richtige Schritte getan hatten, noch einen tun und sich gegen das kirchliche Zölibat zur Wehr setzen.
    Die Trennung von Eléonore Blanc, am Tag ihrer Abreise, war schmerzlich. Das Mädchen brach in Tränen aus. Flora umarmte sie und sagte ihr etwas ins Ohr, das sie selbst erschreckte, während sie es sagte: »Eléonore, ich hab dich mehr lieb als meine eigene Tochter.«

VI

Annah, die Javanerin
Paris, Oktober 1893
    Als Paul an jenem Morgen im Herbst 1893 auf ein Klopfen hin die Tür seines Ateliers in der Rue Vercingétorix Nummer 6 öffnete, verschlug es ihm die Sprache: Die Kind-Frau, die er vor sich sah, klein und zierlich, von dunkler Hautfarbe, eingehüllt in eine Tunika, die der Tracht der Barmherzigen Schwestern glich, trug ein Äffchen auf dem Arm, eine Blume im Haar und um den Hals ein Schild, auf dem stand: »Ich bin Annah, die Javanerin. Ein Geschenk für Paul von seinem

Weitere Kostenlose Bücher