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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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sechs Wochen in Lyon habe ich mehr über die Gesellschaft gelernt als in meinem ganzen Leben zuvor«, notierte sie in ihrem Tagebuch.
    In der ersten Woche hielt sie etwa zwanzig Vorträge in den Werkstätten der Seidenspinner im Viertel Croix-Rousse, vor den berühmten canuts , die vor noch nicht langer Zeit – 1831 und 1834 – zwei Arbeiteraufstände angeführt hatten, die von der Bourgeoisie unter schrecklichem Blutvergießen erstickt worden waren. In den engen, schmutzigen, dunklen Werkräumen, die sich bis hoch auf den Berg Croix-Rousse zogen, dessen endlose Treppen ihr die Luft ausgehen ließen, hatte Flora Mühe, die vom Halbdunkel fast ausgelöschten, nur vom Schein einer Kerze erleuchteten Männer – die Versammlungen fanden am Abend, nach der Arbeit, statt –, die nach ihrem fünfzehnstündigen, nur von einer kurzen Pause zur Mittagszeit unterbrochenen Arbeitstag verzagt, schlecht gekleidet, barfuß, zerlumpt, mit von der Erschöpfung abgestumpften Gesichtern vor ihr saßen, mit den Kämpfern zu verbinden, die sich mit Steinen und Schaufeln den Bajonetten, Kugeln und Kanonen der Soldaten entgegengestellt hatten. Viele bezweifelten, daß sie L’Union Ouvrière geschrieben hatte. Die Vorurteile gegenüber Frauen waren in allen sozialen Klassen tief verwurzelt. Weil sie Röcke trug, hielt man sie für unfähig, Gedanken zur Erlösung des Arbeiters zu entwickeln. Doch nach einer gewissen anfänglichen Befangenheit stellten sie ihr gewöhnlich viele Fragen, und wenn sie sich nach ihren Problemen erkundigte, ließen sie sich imallgemeinen bereitwillig darüber aus. Es gab viele beschränkte Geister unter ihnen, aber auch kluge Köpfe im Rohzustand, die ungeschliffen blieben, weil die Gesellschaft dies verhinderte. Sie verließ diese Versammlungen zum Umfallen müde, aber in einem Zustand geistiger Erregung. Deine Ideen zünden, Florita, die Arbeiter übernehmen sie, die Arbeiterunion wird allmählich Wirklichkeit.
    Am neunten Tag ihres Aufenthalts erschienen vier Polizeibeamte und der Kommissar von Lyon, Monsieur Bardoz, mit einem Durchsuchungsbefehl im Hôtel de Milan. Nachdem sie zwei Stunden lang alles durchstöbert hatten, nahmen sie ihre Papiere, Notizbücher und persönlichen Briefe – darunter ein leidenschaftlicher von Olympe – und die Exemplare von L’Union Ouvrière mit, die sie noch nicht in den Buchhandlungen hatte verteilen können. Bevor sie gingen, überreichten sie ihr eine Vorladung vor den Prokurator des Königs, Monsieur A. Gilardin. Dieser war ein messerdünner Mann in einem Anzug, der sich wie ein religiöses Gewand ausnahm. Er erhob sich nicht zu ihrer Begrüßung, als sie seinen Amtsraum betrat.
    »Die Tätigkeit, der Sie in Lyon nachgehen, ist umstürzlerisch«, sagte er in eisigem Ton zu ihr. »Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, und es kann sein, daß man Ihnen wegen Agitation den Prozeß macht. Bis die Ergebnisse der Untersuchung vorliegen, untersage ich Ihnen daher, Ihre Versammlungen mit den canuts von Croix-Rousse fortzusetzen.«
    Flora musterte ihn langsam und verächtlich von Kopf bis Fuß. Sie bemühte sich mit all ihren Kräften, nicht zu explodieren.
    »Sie betrachten es als umstürzlerisch, Gedanken mit den Personen auszutauschen, die den Stoff der eleganten Anzüge weben, mit denen Sie sich bekleiden? Ich würde gerne wissen, warum.«
    »Diese Höhlen sind keine schicklichen Orte für Damen. Außerdem ist es gefährlich, mit den Arbeitern zu reden, wenn man Ideen hat, die die Gesellschaftsordnung insWanken bringen«, antwortete ihr der lippenlose Mund des Prokurators, fast ohne sich zu bewegen. »Ich muß Sie warnen: Solange die Untersuchung dauert, werden Sie überwacht. Aber wenn Sie es wünschen, können Sie Lyon sofort verlassen.«
    »Ich werde nur der Gewalt weichen. Diese Stadt gefällt mir sehr. Auch ich muß Ihnen etwas erklären: Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit die Presse hier und in Paris die Öffentlichkeit über das Unrecht informiert, das mir geschieht.«
    Sie verließ den Amtsraum des Prokurators, ohne sich zu verabschieden. Die drei Tageszeitungen der Opposition – Le Censeur , La Démocratie und Le Bien Public – berichteten über die Durchsuchung und die Beschlagnahme ihrer Papiere, aber keine von ihnen wagte, die Maßnahme zu kritisieren. Und von diesem Tag an hatte Flora zwei Polizisten vor dem Eingang des Hôtel de Milan stehen, die ihre Besucher notierten und ihr durch die Straßen folgten. Sie waren jedoch so faul und

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