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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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nichts getan, als zwanzig Jahrhunderte politischer Dummheit zu entlarven«, war vermessen. Der Meister gab unüberprüfbare Behauptungen als wissenschaftliche Wahrheiten aus: Die Welt werde genau achtzigtausend Jahre dauern; in dieser Zeit werde jede menschliche Seele achthundertzehnmal zwischen der Erde und anderen Planeten hin und her wandern und tausendsechshundertsechsundzwanzig unterschiedlicheExistenzen leben. War das Wissenschaft oder Hexenglaube? War das nicht abwegig? Deshalb sagte sie sich, obwohl sie wußte, daß ihre Kenntnisse bei weitem nicht an die des Begründers der Lehre heranreichten, daß ihr Vorschlag einer Arbeiterunion gerade in seiner Bescheidenheit realistischer war als der Plan der Phalanstères.
    Nach dem Besuch im Viertel der Dirnen erwartete sie noch Schlimmeres: L’Antiquaille, das Hospital der Irren und der Prostituierten mit schändlichen Krankheiten. Beide Gruppen bewegten sich vermischt unter den Augen von abgestumpften, perversen Wärtern, die den Irren, die halbnackt und mit Ketten gefesselt zwischen Schwärmen von Fliegen in einem verdreckten Innenhof herumirrten, Prügel versetzten, wenn sie zu laut schrien. In den Ecken hockten verwahrloste, Blut spuckende oder mit den Pusteln der Syphilis bedeckte Frauen und versuchten, religiöse Gesänge anzustimmen, dirigiert von den Barmherzigen Schwestern, denen die Krankenpflege oblag. Der Direktor des Hospitals, ein freundlicher Mann mit modernen Ansichten, gab Flora gegenüber zu, daß in den meisten Fällen die soziale Misere schuld war an der Geisteskrankheit dieser Unglückseligen.
    »Natürlich, Doktor. Wissen Sie, wieviel eine Arbeiterin in Lyon für vierzehn oder fünfzehn Stunden in der Werkstatt verdient? Fünfzig Centimes. Den dritten oder vierten Teil des Arbeiters, für die gleiche Arbeit. Wer kommt damit über den Tag, wenn er Kinder ernähren muß? Deshalb prostituieren sich viele und werden schließlich verrückt.«
    »Daß nur die Schwestern Sie nicht hören«, sagte der Arzt, wobei er die Stimme senkte. »Für sie ist der Irrsinn die Strafe für das Laster. Ihre Theorie würde ihnen wenig christlich erscheinen.«
    Nicht nur in L’Antiquaille traf Flora Priester und Nonnen. Sie waren überall. Lyon, die Stadt revolutionärer Arbeiter, war auch eine klerikale Stadt, die nach Weihrauch und Sakristei stank. Sie besuchte viele Kirchen voller armer, fanatisierter Leute, die auf den Knien lagen, betetenoder demütig den obskurantistischen Dummheiten der Geistlichen lauschten, die ihnen Resignation und Unterwerfung unter die Obrigkeit predigten. Am traurigsten war, feststellen zu müssen, daß die Armen die gewaltige Mehrheit der Gläubigen stellten. Um den Fetischismus aus der Nähe zu betrachten, bestieg sie, halb erstickt von der Anstrengung, die höchste Erhebung Lyons, wo in einer kleinen Kapelle dem Bildnis von Notre-Dame de Fourvière gehuldigt wurde. Die Häßlichkeit der Figur beeindruckte sie weniger als das Schauspiel abstoßender Götzenverehrung, das die Gläubigen ihr boten, die wie sie heraufgestiegen waren und sich drängelten und gegenseitig stießen, um in die Nähe der Vitrine der Jungfrau zu gelangen und sie, auf den Knien liegend, mit den Fingerspitzen zu berühren. Das Mittelalter im Herzen einer der industrialisiertesten und modernsten Städte der Welt!
    Auf dem Rückweg ins Zentrum von Lyon, auf halber Höhe des Berges, versuchte sie, ein Asyl für Bettler zu besichtigen, wo alte obdach- und arbeitslose Menschen Zuflucht finden, ein Dach über dem Kopf, einen Teller Suppe und ein christliches Begräbnis erhalten konnten. Aber man ließ sie nicht ein. Das Gebäude wurde von Gendarmen mit Musketen bewacht. Sie erblickte, durch die Gitter hindurch, die Barmherzigen Schwestern, die in der Stadt auch Armenschulen unterhielten. Wie auch nicht! Ordenskleid und Uniform, Hand in Hand, um die Armen fest im Griff zu haben, von der Wiege bis zur Bahre, und ihnen mit Gebeten und Predigten Unterwerfung beizubringen oder mit Gewalt aufzuzwingen.
    Wie anders waren im Vergleich zu diesen Erkundungen die Treffen mit den canuts der Seidenspinnereien und anderen Arbeitern in Lyon. Manchmal kam es zu heftigen Debatten. Flora ging mit gestärkten Überzeugungen und mit dem Gefühl, für ihre Anstrengungen belohnt zu werden, aus ihnen hervor. Eines Abends, bei einem Treffen mit ikarischen Arbeitern, Schülern Etienne Cabets, dessen Roman Die Reise nach Ikarien in der Gegend viele Anhängerfür seine sogenannten

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