Das Paradies ist anderswo
er in diesem Winkel von Montparnasse im zweiten Stock eines alten Wohnhauses gemietet hatte. Ambroise Vollard schickte sie ihm als Dienstmädchen. Das war Annah bislang im Haus einer Opernsängerin gewesen. Doch Paul machte sie noch in dieser Nacht zu seiner Geliebten. Und dann zur Gefährtin seiner Spiele, Phantasien und Provokationen. Und schließlich zu seinem Modell. Woher kam sie? Unmöglich, das herauszufinden. Als Paul sie danach fragte, erzählte Annah ihm eine Geschichte, die mit so vielen geographischen Ungereimtheiten gespickt war, daß es sich zweifellos um eine Erfindung handelte. Vielleicht wußte die Arme es gar nicht und erfand sich eine Vergangenheit, wobei sie durch ihr Plappern verriet, wie wenig sie von den Ländern und Grenzen des Planeten wußte. Wie alt mochte sie sein? Sie sagte, siebzehn, aber er schätzte sie jünger, vielleicht nur dreizehn oder vierzehn, wie Teha’amana,dieses für dich so erregende Alter, in dem die frühreifen Mädchen der primitiven Völker in das Erwachsenenleben eintraten. Sie hatte entwickelte Brüste und feste Schenkel und war keine Jungfrau mehr. Es war jedoch nicht ihr kleiner, wohlgeformter Körper – eine Zwergin, ein kleines Schmuckstück an der Seite Pauls, des siebenundvierzigjährigen Kraftmenschen –, der ihm an dieser Gefährtin, die das undankbare Paris ihm beschert hatte, sogleich verführerisch erschien. Es war ihr Mestizengesicht von der Farbe dunkler Asche, es waren ihre feinen, markanten Gesichtszüge – die kleine Stupsnase, die dicken, von ihren schwarzen Vorfahren ererbten Lippen – und die Lebhaftigkeit und Schamlosigkeit ihrer Augen, die alles, was sie sahen, mit Unruhe, Neugier, Spott betrachteten. Sie sprach das Französisch einer Ausländerin, mit exquisiten Fehlern, mit Vokabeln und Bildern von einer Vulgarität, die Paul an die Hafenbordelle seiner Jugendjahre als Seemann erinnerte. Obwohl sie kein Dach über dem Kopf hatte, weder lesen noch schreiben konnte und weiter nichts besaß als ihr Äffchen Taoa und die Kleidung, die sie auf dem Leibe trug, war sie arrogant wie eine Königin in ihrer Ungeniertheit, in ihren Posen und sarkastischen Äußerungen, die sie sich allem und jedem gegenüber erlaubte, als verdiente nichts ihren Respekt und als besäßen die konventionellen Umgangsformen keine Gültigkeit für sie. Wenn etwas oder jemand ihr Mißfallen erregte, streckte sie die Zunge heraus und schnitt eine Grimasse, die Taoa kreischend nachahmte.
Es war schwer erkennbar, ob die Javanerin im Bett Lust empfand oder vorspielte. Jedenfalls verschaffte sie dir Lust und amüsierte dich zugleich. Annah gab dir zurück, was du seit der Rückkehr nach Frankreich verloren glaubtest: den Wunsch zu malen, Humor und Lebenslust.
Am Tag nach Annahs Erscheinen in seinem Atelier führte Paul sie in ein Geschäft am Boulevard de l’Opéra und kaufte ihr Kleidung, bei deren Auswahl er ihr half. Und außer Stiefeletten ein halbes Dutzend Hüte, für dieAnnah eine Leidenschaft besaß. Sie trug sie sogar im Haus, der Hut war das erste, zu dem sie beim Aufwachen griff. Paul wurde von Lachen geschüttelt, wenn er das nackte Mädchen mit einem steifen canotier auf dem Kopf in Richtung Küche oder Badezimmer tänzeln sah.
Dank der Heiterkeit und Erfindungsgabe der Javanerin verwandelte sich das Atelier in der Rue Vercingétorix an den Donnerstagabenden in einen Ort geselligen Beisammenseins. Paul spielte Akkordeon, kleidete sich bisweilen in einen tahitianischen Pareo und bedeckte seinen Körper mit nachgeahmten Tätowierungen. Zu den soirées kamen die treuen Freunde von früher mit ihren Ehefrauen oder Geliebten: Daniel de Monfreid und Annette, Charles Morice mit einer risikofreudigen Gräfin, die seine Misere teilte, das Ehepaar Schuffenecker, der spanische Bildhauer Paco Durrio, der sang und Gitarre spielte, und das Ehepaar Molard aus der Nachbarschaft, zwei ausgewanderte Schweden – Ida, Bildhauerin, und William, Komponist –, die manchmal einen Landsmann, einen Dramatiker und halb verrückten Erfinder namens August Strindberg, mitbrachten. Die Molards hatten eine heranwachsende Tochter, Judith, ein neugieriges, romantisches Mädchen, das fasziniert war vom Atelier des Malers. Paul hatte es mit gelber Tapete tapeziert, die Fenster in amberfarbenen Tönen, und es mit seinen tahitianischen Skulpturen und Bildern vollgestellt. Aus den Wänden schienen flammende Pflanzen, tiefblaue Himmel, smaragdgrüne Meere und Seen und sinnliche nackte Körper zu
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