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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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sie so viel gelesen wie in diesen Monaten in der großen Bibliothek Don Marianos – und die Gesellschaft und Ergebenheit des Göttlichen Eunuchen wäre es noch viel schlimmer gewesen. Ismaelillo begleitete sie auf langen Spaziergängen am Ufer der Garonne oder durch das nahe Land, wo die Weinberge sich aneinanderreihten, soweit das Auge reichte, und unterhielt sie mit Geschichten über Spanien, über Don Mariano und über die Intrigen der großen Familien in Bordeaux, die er genauestens kannte. Eines Tages, als sie vor dem Kamin Karten spielten, bemerkte Flora, daß der junge Mann, sehr nervös, ständig die Hand zur Hose führte, als verscheuchte er ein Insekt oder als juckte es ihn. Unauffällig beobachtete sie seine Bewegungen. Ja, sie hatte nicht den geringsten Zweifel: Wie beiläufig war er damit beschäftigt, sich zu befriedigen, erregt durch Floras Nähe, und er tat es hier, fast vor ihren Augen und denen Don Marianos, der in seinem Schaukelstuhl ein in Pergament eingebundenes Buch las. Um ihn in Verlegenheit zu bringen, bat sie ihn unvermittelt, ihr ein Glas Wasser zu bringen. Ismaelillo wurde rot wie eine Tomate und suchte Zeit zu gewinnen, indem er tat, als habe er nichtgehört; schließlich erhob er sich, zur Seite gewandt und gekrümmt, aber Flora konnte trotzdem flüchtig erkennen, daß seine Hose aufgebauscht war. In dieser Nacht hörte sie ihn schluchzen, während er in der Kapelle kniete. Geißelte er sich? Fortan bestimmte eine Mischung aus Mitleid und Abscheu ihre Beziehung zu dem jungen Spanier. Er tat dir leid, Florita, aber er stieß dich auch ab. Er war gut und litt, ohne Zweifel. Doch er legte alles darauf an, die Qualen, die das Leben schon von sich aus bot, noch zu vermehren. Was mochte wohl aus ihm geworden sein?
    Floras sonderbarste Erfahrung während ihres Aufenthalts in Saint-Etienne war der Besuch der an die Garnison angrenzenden Waffenfabrik. Die Erlaubnis dazu erlangte sie mit Hilfe dreier bürgerlicher Anhänger des Fourierismus, Freunde des Obersten und Regimentschefs, der einen seiner Adjutanten, einen Hauptmann mit schmuckem Bärtchen, zu ihrer Begleitung abstellte. Die Ausführungen über die Waffen, die dort geschmiedet wurden, langweilten sie derart, daß sie währenddessen an andere Dinge dachte. Doch am Ende des Besuchs boten der zivile Direktor der Fabrik und mehrere Angehörige der Artillerie ihr eine Erfrischung an. Die Unterhaltung kreiste um banale Themen. Plötzlich fragte der Hauptmann sie mit gewundenen Worten, was wahr sei an den Gerüchten, denen zufolge Madame Tristan pazifistische Neigungen habe. Sie wollte ihm ausweichend antworten – man erwartete sie in einer Bandwirkerei im Viertel Saint-Benoît, und sie wollte keine Zeit mit einer nutzlosen Debatte vertun –, aber als sie die überraschten, offen vorwurfsvollen oder spöttischen Gesichter der umstehenden Offiziere sah, konnte sie sich nicht zurückhalten:
    »Sehr viel Wahres, Herr Hauptmann! Ich bin Pazifistin, natürlich. Deshalb sieht mein Plan der Arbeiterunion vor, daß in der künftigen Gesellschaft die Waffen verboten und die Armeeverbände abgeschafft werden.«
    Zwei Stunden später debattierte sie noch immer hitzig mit diesen empörten Männern, von denen einer ihr wütendzu sagen wagte, derlei Ideen seien »einer französischen Dame nicht würdig«.
    »Mein Vaterland ist zuerst die Menschheit, und dann Frankreich, meine Herren«, sagte sie und setzte damit einen Schlußpunkt unter das Treffen. »Danke für Ihre Gesellschaft. Ich muß gehen.«
    Sie verließ den Ort, von der Debatte erschöpft, aber auch amüsiert, weil sie diese aufgeblasenen Artilleristen mit ihren zersetzenden Ideen verstört hatte. Wie hattest du dich verändert, Florita, seitdem du im Palais Don Marianos die Weichen für die Reise nach Peru gestellt hattest, um der Verfolgung durch André Chazal zu entgehen. Damals warst du durchaus rebellisch gewesen, aber konfus und unwissend und alles andere als revolutionär. Dir kam nicht in den Sinn, daß es möglich war, organisiert gegen diese Gesellschaft zu kämpfen, die unter dem Deckmantel der Ehe die Versklavung der Frau erlaubte. Wie gut dir die Erfahrung in Peru bekommen sollte. Dieses Jahr in Arequipa und in Lima veränderte dich.
    Don Pío Tristán gab seine Zustimmung zu Floras Reise nach Peru, wenn auch ohne Begeisterung. Die Familie würde sie in dem Haus unterbringen, in dem ihr Vater geboren wurde und seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Don Mariano de Goyeneche und

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