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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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widersprechen, dich selbst Lügen zu strafen, von Don Mariano de Goyeneche und seinem Schatten, Vertrauensmann, Sekretär und Sakristan Ismaelillo, dem Göttlichen Eunuchen, entlarvt, gedemütigt und wieder an deinen wahren Platz verwiesen zu werden.
    Don Mariano de Goyeneche schluckte Floras Lügen ohne den geringsten Argwohn. Er glaubte ihr, daß sie infolge des kürzlichen Todes ihrer Mutter allein in der Welt zurückgeblieben war, ohne Verwandte oder Freunde in Paris, und daß unter diesen Umständen der Gedanke – die Sehnsucht, der Traum – in ihr gekeimt war, nach Peru zu reisen, nach Arequipa, um die Heimat ihres Vaters kennenzulernen, ihrer väterlichen Familie nahe zu sein und das Haus zu betreten, in dem ihr Erzeuger das Licht der Welt erblickt hatte. Dort würde sie sich geschützt fühlen, getröstet in ihrer Verlassenheit und Einsamkeit. Flora fuhr sich mit dem Taschentuch aus Gaze über die Augen, verstellte ihre Stimme und gab einen gespielten Schluchzer von sich. Der alte weißhaarige, trübgesichtige Mann, dessen schwarzer Anzug wie ein religiöses Gewand wirkte, war bewegt und ergriff mehrmals nickend ihre Hand, während sie ihm ihr Unglück schilderte. Ja, ja, Florita, eine junge Frau wie sie dürfe nicht allein in dieser Welt bleiben. Die Tochter seines Vetters Mariano Tristán müsse nach Peru reisen, wo ihr Onkel, ihre Großmutter, ihre Vettern und Basen ihr Wärme und Zuneigung schenken und damit die Leere füllen würden, die der Tod ihrer Mutter hinterlassen hatte. Er werde Pío schreiben und ihn von ihrer Reise in Kenntnis setzen, und er selbst werde es übernehmen, ein gutes Schiff für sie zu suchen und sie mit den nötigen Empfehlungen auszustatten, damit sie die lange Reise in größtmöglicher Sicherheit machen könne. Während sie auf Nachricht aus Arequipa warteten, solle Flora sich weder aus Bordeaux noch aus diesem Haus fortrühren, das siedurch ihre Jugend mit Fröhlichkeit erfüllen würde. Er sei glücklich, daß seine kleine Nichte ihm einige Monate lang Gesellschaft leistete.
    Fast ein ganzes Jahr verbrachte sie im Herrenhaus von Don Mariano de Goyeneche, der, sofern er noch lebte, dich ebenso hassen und verachten dürfte, wie er dich vor elf Jahren geliebt und beschützt hatte. Ein Mann, der dich ledig und jungfräulich glaubte, während du in Wirklichkeit eine Ehefrau auf der Flucht warst, Mutter dreier Kinder (zweier lebender und eines toten), und überdies auch nicht deine Mutter verloren hattest, die noch in Paris lebte, obwohl sie durch die Art, wie sie Partei für André Chazal ergriffen hatte, für dich gestorben war, denn du solltest sie weder wiedersehen noch ihr jemals schreiben. Was für ein Gesicht hätte Don Mariano de Goyeneche gemacht, wenn er in Fahrten einer Paria die Wahrheit über die Lügen gelesen hätte, die du ihm aufgetischt hattest? Die kleine lautere, unschuldige Nichte, der er die Reise nach Peru bezahlt hatte, entpuppte sich als unwürdige Ehefrau und Mutter, die von der Polizei verfolgt wurde! Er wäre zur Beichte gegangen und hätte in jener Nacht seinen Bußgürtel noch etwas tiefer in sein sieches Fleisch getrieben.
    Er war neben Ismaelillo, dem Göttlichen Eunuchen, der katholischste Mensch, dem Flora je begegnet war. Ein so hundertprozentiger, so besessener Katholik, daß er fast schon einer Karikatur nahekam. Sein größter Stolz (vielleicht von heimlichem Neid genährt) bestand darin, daß sein jüngerer Bruder Erzbischof von Arequipa war. »Ein Kirchenfürst in der Familie, Florita! Was für eine Ehre und was für eine Verantwortung!« Er selbst war Junggeselle geblieben, um seine Pflichten gegenüber der Kirche und Gott besser erfüllen zu können, wenn er auch, anders als anscheinend Ismaelillo, kein Keuschheits-, Armuts- und Gehorsamsgelübde abgelegt hatte. Er ging jeden Tag zur Messe in die Kathedrale und kehrte mehrmals in der Woche zum abendlichen Segen und zum Rosenkranz in die Kirche zurück. Er schleppte Flora zu Messen, Vespern, Novenen,Beräucherungen, Prozessionen. Sie bemühte sich nach Kräften, beim Beten eine ähnliche Inbrunst vorzuspielen, wie Don Mariano sie an den Tag legte, der nicht auf der Bank, sondern auf dem kalten Steinboden kniete, die Hände vor der Brust gefaltet, die Augen geschlossen, den ganzen Körper in einer Haltung vollkommener Buße und Demut und das Gesicht entrückt, ins Gebet versunken. Priester, Pfarrer, Schirmherren frommer Werke, Barmherzige Schwestern, Kongregationen kamen ins Haus. Sie alle

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