Das Paradies ist anderswo
wegen waren ihre Mahlzeiten frugal –, und da sie ein Brot in der Tasche trug, holte sie es hervor und begann, davon zu essen, mit aller Diskretion. Es half ihr nichts, denn bald sah sie sich von einer Gruppe wütender Frauen umringt, mit Tüchern auf dem Kopf und Meßbüchern und Rosenkränzen in der Hand, die ihr vorhielten, sie habe einen religiösen Ort mißachtet und die Gefühle der Gläubigen während der heiligen Messe verletzt. Sie erklärte ihnen, es sei nicht ihre Absichtgewesen, jemanden zu verletzen, sie sei gezwungen, etwas zu essen, wenn ihre Kräfte nachließen, denn sie sei magenkrank. Ihre Erklärungen beruhigten die Frauen nicht etwa, sondern erzürnten sie noch mehr; einige riefen laut, auf französisch oder provenzalisch, »Jüdin«, »gottlose Jüdin«. Schließlich entfernte sie sich, damit der Skandal nicht ausartete.
War der Zwischenfall, dessen Opfer sie am nächsten Tag beim Betreten einer Weberwerkstatt wurde, eine Folge des Vorfalls in der Kirche Saint-Pierre? Am Eingang der Werkstatt erwarteten sie in drohender Haltung mehrere Arbeiterinnen oder Frauen und Verwandte von Arbeitern, nach der ärmlichen Kleidung zu urteilen, und versperrten ihr den Zugang. Einige waren barfuß. Floras Versuche, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, herauszufinden, was sie ihr vorwarfen, warum sie sie am Betreten der Werkstatt und an dem Treffen mit den Webern hindern wollten, blieben erfolglos. Sie verstand die Sache nur halb, denn sie sprachen ein Gemisch aus Französisch und der Regionalsprache. Sie fürchteten, ihre Ehemänner könnten durch ihre Schuld ihre Arbeit verlieren und sogar verhaftet werden. Einige schienen eifersüchtig auf ihre Anwesenheit dort zu sein, denn sie riefen »Sittenverderberin« oder »Hure, Hure«, während sie ihr die Krallen zeigten. Ihre beiden Begleiter aus Avignon, Schüler von Agricol Perdiguier, rieten ihr, auf das Treffen mit den Webern zu verzichten. Angesichts der erhitzten Gemüter könne man körperliche Aggressionen nicht ausschließen. Wenn die Polizei käme, müßte Flora die Sache ausbaden.
Sie entschied sich dafür, den Palast der Päpste zu besichtigen, der jetzt als Kaserne diente. Ihr Interesse galt nicht dem prunkhaften, massiven Gebäude und schon gar nicht den Gemälden von Devéria und Pradier, die seine dicken Wände schmückten – wenn man sich im Krieg gegen die Übel der Gesellschaft befand, hatte man weder Zeit noch Lust, sich an Kunst zu erfreuen –, aber sie war fasziniert von Madame Gros-Jean, der alten Portiersfrau, die die Besucherdurch den Palast führte, der viel von einem Gefängnis hatte. Madame Gros-Jean, fettleibig, einäugig, in Decken gewickelt trotz der starken sommerlichen Hitze, die Flora schwitzen ließ, energisch und geschwätzig wie eine Elster, war fanatische Monarchistin. Ihr zufolge hatten sämtliche Mißgeschicke Frankreichs 1789 begonnen, mit den gottlosen Teufeln von Jakobinern, vor allem mit dem Ungeheuer Robespierre. Mit morbidem Genuß und unter heftigen Verdammungen zählte sie die schwarzen Taten des Banditen und Robespierre-Anhängers Jourdan auf, genannt der Köpfeabschneider, der in Avignon höchstpersönlich sechsundachtzig Märtyrer geköpft hatte und diesen Palast dem Erdboden gleichmachen wollte. Zum Glück hatte Gott dies nicht zugelassen und dafür gesorgt, daß Jourdan seine Tage unter der Guillotine beendete. Als Flora – um zu sehen, was für ein Gesicht die Portiersfrau machen würde – unvermittelt erklärte, die Große Revolution sei das Beste, was Frankreich seit den Zeiten des heiligen Ludwig widerfahren sei, und das bedeutendste geschichtliche Ereignis der Menschheit, mußte Madame Gros-Jean sich schweratmend und empört an einer Säule festhalten.
Der letzte Teil der Reise der Méxicain , an der südamerikanischen Küste entlang, war der angenehmste. Der Pazifik machte seinem Namen alle Ehre und zeigte sich friedlich, und Flora konnte in Ruhe außer ihren eigenen auch Bücher der kleinen Schiffsbibliothek lesen, in der sie Autoren wie Lord Byron und Chateaubriand fand, die sie zum erstenmal las. Sie tat es gründlich, machte sich Notizen dazu und entdeckte auf jeder Seite Ideen, die sie in ihren Bann zogen. Auch die Lücken ihrer Bildung. Aber hattest du denn irgendeine Bildung erhalten, Florita? Das war die Tragödie deines Lebens, nicht André Chazal. Was für eine Bildung erhielten denn die Frauen, selbst heute? Wäre ein Vorfall wie der mit den Betschwestern, die dich in der Kirche
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