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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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ein, daß Avignon im Unterschied zu Lyon, einer in jeder Hinsicht sehr modernen Stadt, politisch gesehen in der Steinzeit lebe. Die Arbeiter seien gleichgültig, und die herrschende Klasse teile sich in Anhänger der Monarchie und Anhänger Napoleons, was ziemlich das gleiche sei, wenn auch mit unterschiedlichen Etiketten. Er prophezeie ihr keine großen Erfolge bei ihrem Kreuzzug gegen die Ungerechtigkeit, aber er wünsche sie ihr.
    Flora ließ sich nicht entmutigen von diesen schlechten Aussichten, auch nicht von der Kolitis, die sie in den zehn Tagen in Avignon pausenlos quälte. Da sie nicht schlafen konnte und es heiß war, öffnete sie in den Nächten in der Pension Zum Bären das Fenster, um die Brise zu spüren und den Himmel der Provence zu sehen, der voller Sterne stand; sie funkelten so zahlreich, wie du sie in ruhigenNächten, nach der Durchquerung der Äquatorregion, auf Deck der Méxicain gesehen hattest, bei den Abendessen, die Kapitän Chabrié mit Tiroler Weisen und Arien von Rossini, seinem Lieblingskomponisten, begleitete. Alfred David, der Reeder, besann sich auf seine astronomischen Kenntnisse und lehrte Flora, geduldig wie ein guter Schulmeister, die Namen der Sterne und Konstellationen. Kapitän Chabrié wurde blaß vor Eifersucht. Bestimmt war er auch eifersüchtig auf die Spanischübungen, bei denen dir bereitwillig die peruanischen Passagiere halfen, Fermín Miota aus Cusco, sein Vetter Don Fernando, der alte Militär Don José und sein Neffe Cesáreo, die sich darum stritten, dir die Verben beizubringen, die Syntax zu korrigieren und dich über die phonetischen Besonderheiten des in Peru gesprochenen Spanisch aufzuklären. Doch obwohl Chabrié sicher unter den Aufmerksamkeiten litt, mit denen die anderen dich überhäuften, sagte er nichts. Er war zu korrekt und wohlerzogen, um dir Eifersuchtsszenen zu machen. Da du ihm gesagt hattest, du würdest ihm bei der Ankunft in Valparaíso eine endgültige Antwort geben, wartete er ab und betete bestimmt jede Nacht, du mögest ihm dein Jawort geben.
    Nach der Hitze in der Äquatorregion und nach einigen Wochen Windstille und gutem Wetter, in denen die Übelkeit nachließ und die Überfahrt erträglicher wurde – du konntest die Bücher von Voltaire, Victor Hugo und Walter Scott verschlingen, die du bei dir hattest –, stand der Méxicain die schlimmste Etappe der Reise bevor: Kap Hoorn. Im Juli und August war seine Umschiffung in jedem Augenblick mit der Gefahr verbunden, Schiffbruch zu erleiden. Die orkanartigen Winde schienen es darauf abgesehen zu haben, das Schiff gegen die entgegenkommenden Eisberge zu treiben, und die Schnee- und Hagelstürme setzten Kabinen und Schiffsräume unter Wasser. Tag und Nacht lebten sie in Furcht und Schrecken, halberfroren. Aus Angst zu ertrinken machte Flora in diesen schrecklichen Wochen kein Auge zu und sah ungläubig, wie die Offiziereund Matrosen, angefangen bei Chabrié, überall gleichzeitig waren, Segel hißten und einholten, Wasser schöpften, die Schäden reparierten, ununterbrochen zwölf oder vierzehn Stunden am Tag, ohne zu ruhen oder zu essen. Die meisten Angehörigen der Besatzung waren nicht gerade warm gekleidet. Die Matrosen zitterten vor Kälte; bisweilen ließ das Fieber sie erschöpft zu Boden sinken. Es gab Unfälle – ein Matrose rutschte vom Besanmast ab und brach sich ein Bein –, und das halbe Schiff wurde von einer epidemieartigen Hauterkrankung mit juckenden Furunkeln befallen. Als sie die Kapregion endlich hinter sich ließen, das Schiff die Wasser des Pazifiks erreichte und mit Kurs auf Valparaíso die Küste Südamerikas hinaufzufahren begann, hielt Kapitän Chabrié eine kleine Andacht ab, bei der er Gott dankte, daß sie diese Prüfung lebend überstanden hatten; an ihr beteiligten sich bereitwillig sämtliche Passagiere und Besatzungsmitglieder, mit Ausnahme des Reeders David, der sich zum Agnostiker erklärte. Auch Flora. Bis Kap Hoorn hattest du den Tod nie so nah gefühlt, Andalusierin.
    An diese Zeremonie und an Zacharie Chabriés tiefempfundene Gebete mußte sie denken, als sie an einem Vormittag, an dem sie über ein paar freie Stunden verfügte, auf den Gedanken kam, die alte Kirche Saint-Pierre in Avignon zu besichtigen. Für die Bewohner gehörte sie zu den Schmuckstücken der Stadt. Es fand gerade eine Messe statt. Um die Gläubigen nicht zu stören, setzte Flora sich auf eine Bank im hinteren Teil der Kirche. Nach kurzer Zeit verspürte sie Hunger – der Koliken

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