Das Paradies ist anderswo
Marie-Henry, in Le Pouldu, kam einer jede Nacht zu mir ans Fenster, um mich vor einem Unglück zu warnen, das ich nie erriet. Wir wurden Freunde. Dieser große, häßliche Vogel da ist ein Rabe.«
Sie konnten es nicht herausfinden, denn als sie sich dem Mangobaum näherten, verflüchtigte sich das dunkle Etwas, der geflügelte Schatten.
»Ein unheilverkündender Vogel, das weiß ich genau«, erklärte Koke unbeirrbar. »Der in Le Pouldu kam, um mir eine Tragödie anzukündigen. Auch der hier ist mit der Nachricht einer Katastrophe hergekommen. Meine Ekzeme werden aufbrechen, oder beim nächsten Unwetter schlägt der Blitz in die Hütte ein und setzt sie in Brand.«
»Das war ein anderer Vogel, wer weiß was für einer«, widersprach Pierre Levergos hartnäckig. »Auf Tahiti, Moorea und den anderen Inseln hier hat man nie einen Raben gesehen.«
Zwei Tage später, während Koke und Pau’ura darüber stritten, wo sie das Mädchen taufen lassen sollten – siewollte die katholische Kirche, aber er nicht, denn Pater Damian war ein schlimmerer Feind als der umgänglichere Pastor Riquelme –, wurde das Kind auf einmal steif, lief bläulich an, als fehle ihm Luft, und rührte sich nicht mehr. Als sie zum Arztposten in Punaauia kamen, war es bereits tot. »Angeborener Defekt der Atemwege«, dem Totenschein zufolge, den der Vertreter des Gesundheitswesens unterzeichnete.
Sie begruben das Mädchen auf dem Friedhof von Punaauia, ohne religiöse Zeremonie. Pau’ura weinte nicht, nicht an diesem Tag und nicht an den folgenden und nahm nach und nach ihre Routine wieder auf, ohne ihr gestorbenes Mädchen je zu erwähnen. Auch Paul sprach nicht über sie, aber er dachte Tag und Nacht an das Geschehen. Es quälte ihn schließlich genauso wie Monate zuvor das Porträt von Aline Gauguin , dessen Verbleib er nie klären konnte.
Du dachtest an das tote Mädchen und an den unheilvollen Vogel – es war ein Rabe, du warst dir sicher, sosehr Eingeborene und Siedler auch versichern mochten, daß es keine Raben auf Tahiti gab. Diese geflügelte Gestalt rührte alte Bilder in deiner Erinnerung auf, aus einer Zeit, die gar nicht so weit zurücklag, die dir aber jetzt unendlich fern vorkam. Er versuchte, sich irgendeine Veröffentlichung zu beschaffen – zuerst in der bescheidenen Bibliothek des Militärclubs von Papeete, dann in der Privatbibliothek des Siedlers Auguste Goupil, der einzigen auf der ganzen Insel, die diesen Namen verdiente –, in der die französische Übersetzung des Gedichts Der Rabe von Edgar Allan Poe enthalten war. Du hattest zugehört, als der Übersetzer, dein Freund, der Dichter Stéphane Mallarmé, es mit lauter Stimme vortrug in seiner Wohnung in der Rue de Rome, bei einer dieser dienstäglichen Zusammenkünfte, an denen du in deinem Pariser Leben einst teilzunehmen pflegtest. Du erinnertest dich mit aller Deutlichkeit an die Ausführungen des eleganten, feinsinnigen Stéphane über die schreckliche Zeit im Leben Poes, in der dieser, zerstört von Alkohol, Drogen, Hunger und den Familienproblemen inPhiladelphia, die erste Version dieses Textes geschrieben hatte. Dieses schreckliche Gedicht, dessen Übersetzung so düster und doch harmonisch, so sinnlich und makaber war, hatte dich bis ins Mark getroffen, Paul. Der tiefe Eindruck dieser Lektüre hatte dich veranlaßt, ein Porträt von Mallarmé zu malen, als Huldigung an den, der imstande gewesen war, dieses Meisterwerk so treffend in die französische Sprache zu übertragen. Doch Stéphane gefiel es nicht. Vielleicht hatte er recht, vielleicht war es dir nicht gelungen, sein schwer faßbares Dichtergesicht festzuhalten.
Er erinnerte sich, daß bei dem Abendessen im Café Voltaire am 23. März 1891, das seine Freunde für ihn gegeben hatten, um ihn am Vorabend seiner ersten Reise nach Tahiti zu verabschieden, kein anderer als Stéphane Mallarmé den Vorsitz geführt und zwei Übersetzungen von Der Rabe vorgelesen hatte, seine eigene und die des furchteinflößenden Dichters Charles Baudelaire, der sich rühmte, mit dem Teufel gesprochen zu haben. Dann hatte Stéphane Paul als Dank für das Porträt ein gewidmetes Exemplar des kleinen privaten Drucks seiner Übersetzung geschenkt, die 1875 erschienen war. Wo war dieses Büchlein? Er durchwühlte die Reisetruhe mit dem Krimskrams, aber er fand es nicht. Wer deiner Freunde hatte es behalten? Bei welchem deiner zahllosen Umzüge war dieses Gedicht verlorengegangen, nach dem es dich jetzt so dringend verlangte –
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