Das Paradies ist anderswo
tupapau einnahm. Als du dieses Bild vor fünf Jahren gemalt hattest, schlepptest du noch viele Überreste der romantischen Faszination für das Böse, das Makabre, das Düstere mit dir herum, wie Charles Baudelaire, der Dichter, der in Luzifer verliebt war, von dem er behauptete, er habe ihn eines Abends in einem Bistro in Montparnasse sitzen sehen und mit ihm über Ästhetik diskutiert. Dieser literarisch-romantische Hintergrund war verschwunden. Dem Raben hattest du ein tropisches Aussehen verliehen: er war grünlich geworden, mit grauem Schnabel und rauchgefleckten Flügeln. In dieser heidnischen Welt akzeptierte die ruhende Frau ihre Grenzen, sie wußte um ihre Ohnmacht angesichts der geheimen, grausamen Kräfte, die plötzlich über die Menschen hereinbrechen, um sie zu vernichten. Das primitive Bewußtsein – das der Ariori – kannte kein Aufbegehren gegen sie, keine Klage und keinen Protest. Es begegnete ihnen mit Gleichmut, mit Klarsicht, mit Resignation, wie der Baum und der Berg dem Sturm, der Sand der Strände den Fluten, die sie unter sich begraben.
Als er den Akt beendet hatte, füllte er den Raum um ihn üppig und detailreich, mit großer Farbenvielfalt und subtilen Kombinationen. Das mysteriöse, ungewisse Licht der Dämmerung lud die Gegenstände mit Ambivalenz auf. Sämtliche Motive deiner persönlichen Welt waren gegenwärtig, gaben dieser Komposition ihre Eigenheit, und doch war sie eindeutig tahitianisch. Außer dem blinden Raben mit seinen tropischen Farben erschienen, auf anderen Flächen, Phantasieblumen, schwellende, knollenförmige Figuren, Pflanzenschiffe mit vollen Segeln, ein Himmel mit treibenden Wolken, vielleicht die Pinselstriche eines Bildes, das die Mauer bedeckte, oder ein Himmel, der durch ein offenes Fenster des Raums zu sehen war. Die beiden Frauen, die hinter dem liegenden Mädchen miteinander sprachen, die eine mit dem Rücken zum Betrachter, dieandere im Profil, wer waren sie? Du wußtest es nicht; es war etwas Unheimliches, Unheilverkündendes an ihnen, das sich hinter der Normalität ihrer Erscheinung verbarg, etwas Grausameres als beim dunklen Dämon von Manao tupapau . Man brauchte das liegende Mädchen nur genauer zu betrachten, um festzustellen, daß ihre Augen trotz ihrer ruhigen Pose verdreht waren: sie versuchte, das Gespräch zu erlauschen, das hinter ihrem Rücken stattfand, ein Gespräch, das sie beunruhigte. Auf verschiedenen Gegenständen des Zimmers – auf dem Kissen, dem Laken – erschienen die kleinen japanischen Blumen, die dir automatisch aus dem Pinsel flossen, seitdem du in deinen Anfängen als Maler die japanischen Holzschnittkünstler entdeckt hattest. Doch jetzt kam auch in diesen kleinen Blumen die verborgene Ambivalenz der primitiven Welt zum Ausdruck, denn sie veränderten sich je nach dem Blickwinkel und wurden zu Schmetterlingen, Papierdrachen, fliegenden Gebilden.
Als er das Bild beendet hatte – fast zehn Tage lang arbeitete er an der Verfeinerung und Korrektur der Einzelheiten –, fühlte er sich glücklich, traurig, leer. Er rief nach Pau’ura. Nachdem sie es eine Weile ausdruckslos betrachtet hatte, schüttelte sie den Kopf ohne große Begeisterung:
»Ich bin nicht so. Diese Frau ist eine Alte. Ich bin sehr viel jünger.«
»Du hast recht«, erwiderte er. »Du bist jung. Sie ist ewig.«
Er legte sich eine Weile zum Schlafen nieder und suchte nach dem Erwachen Pierre Levergos auf. Er lud ihn nach Papeete ein, um sein gerade fertiggestelltes Meisterwerk zu feiern. In den kleinen Hafenlokalen tranken sie ohne Pause, die ganze Nacht und von allem, Absinth, Rum, Bier, bis beide besinnungslos betrunken waren. Dann versuchten sie, in eine Opiumhöhle in der Nähe der Kathedrale hineinzukommen, aber die Chinesen warfen sie hinaus. Sie schliefen auf dem Boden in einem Wirtshaus. Am nächstenTag, als sie im öffentlichen Wagen nach Punaauia zurückkehrten, drehten sich Paul die Eingeweide um, er würgte und spürte eine giftige Säure im Magen. Doch trotz seines üblen Zustands verpackte er sorgfältig das Bild und schickte es, begleitet von wenigen Zeilen, an Daniel de Monfreid: »Da es ein Meisterwerk ist, will ich lieber, daß es nicht verkauft wird, wenn man keinen guten Preis dafür erzielen kann.«
Als vier Monate später Monfreids Antwort eintraf, in der er ihm mitteilte, daß Ambroise Vollard Nevermore am ersten Tag, an dem er das Bild in seiner Galerie ausgestellt hatte, für fünfhundert Francs verkaufen konnte, hatte Paul
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