Das Paradies ist anderswo
wie nach Alkohol, wie nach Laudanum, wenn die Schmerzen dich überfielen? Die unangenehme Erinnerung an deine Versuche, das Porträt deiner Mutter zurückzuerlangen, hinderte dich daran, deine Freunde zu bitten, sie sollten sich nach der Übersetzung des Gedichts von Poe umtun.
Im Gedächtnis geblieben waren ihm nicht die einzelnen Verse, nur das Ritornell, mit dem die Strophen endeten – » Nevermore « –, auch der Aufbau und der Inhalt. Ein Gedicht, das für dich, Koke, den Tahitianer, in diesem Augenblick deines Lebens geschrieben war. Du fühltest dich wie jener Student, du warst jener Student, der zu stürmischer mitternächtlicher Stunde, vertieft in seine Grübeleien undLektüren, das Herz gebrochen durch den Tod seiner geliebten Leonor, von einem Raben überrascht wird. Der Vogel dringt durch das Fenster seines Zimmers ein, vom Sturm getrieben oder von den Mächten der Finsternis geschickt, und läßt sich auf der weißmarmornen Büste der Pallas Athene nieder, die an der Tür wacht. Du erinnertest dich mit fiebriger Klarsicht an die Melancholie und die makabren Töne des Gedichts, an seine Anspielungen auf den Tod, den Schrecken, das Unglück, die Hölle (»die Strände Plutos«), die Finsternis, die Ungewißheit des Jenseits. Auf alle Fragen des Studenten nach seiner Geliebten, nach der Zukunft, antwortet der Vogel mit seinem unheilvollen » Nevermore «, bis eine beklemmende Atmosphäre von Ewigkeit, von regloser Zeit entsteht. Bis hin zu den Schlußversen, wenn die Geschichte den Studenten und seinen schwarzen Besucher entläßt, dazu verurteilt, sich bis zum Ende aller Zeiten von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.
Du mußtest malen, Koke. Dieses Knistern im Kopf, das dich seit so langer Zeit nicht mehr erfaßt hatte, war wieder da, forderte es von dir, verwandelte dich in ein aufgewühltes, euphorisches Wesen. Ja, ja, natürlich: malen. Was solltest du malen? Fiebrig, gepackt von der Erregung und diesem Aufruhr in seinem Blut, der ihm Gänsehaut machte, in den Kopf stieg und ein Gefühl von Sicherheit, Macht, Siegesgewißheit verlieh, spannte er eine Leinwand in den Rahmen, befestigte sie mit Reißzwecken und stellte sie auf die Staffelei. Er begann das tote Mädchen zu malen, versuchte, es ausgehend von den religiösen und abergläubischen Vorstellungen der alten Maori zum Leben zu erwecken, von denen keine Spur mehr blieb oder die von den jetzigen Bewohnern so verborgen, so geheimgehalten wurden, daß sie für dich verboten waren, Koke. Er arbeitete ganze Tage, vormittags und nachmittags, mit einer Pause am Mittag für einen kurzen Schlaf, an der Neuerfindung des winzigen Körpers, des bläulichen Gesichts. In der Dämmerung des dritten Tages, als das abnehmende Lichtihm das Arbeiten erschwerte, fuhr er mit einem breiten, weißen Pinselstrich über das mühsam erarbeitete Bild. Er war angewidert, erhitzt, fühlte eine Wut im Leib, die ihm aus Ohren und Augen drang, diesen Zorn, der ihn immer ergriff, wenn er nach einem Anfall von Begeisterung, der ihn zur Arbeit trieb, feststellen mußte, daß er gescheitert war. Was dir von der Leinwand entgegenblickte, war ein Dreck, Koke. Zur Enttäuschung, zur Frustration, zum Gefühl der Ohnmacht gesellte sich ein heftiger Schmerz in den Gelenken und Knochen. Er ließ die Pinsel auf der Palette zurück und beschloß, bis zur Bewußtlosigkeit zu trinken. Als er durch das Schlafzimmer zum Eingang ging, wo das Faß mit dem Roséwein stand, sah er aus dem Augenwinkel Pau’ura, die nackt auf der Seite ausgestreckt lag, das Gesicht den rechteckigen Öffnungen der Wand zugekehrt, in denen die ersten Sterne an einem kobaltblauen Himmel erschienen. Die Augen seiner vahine hefteten sich einen Augenblick gleichmütig auf ihn und wandten sich dann wieder gelassen oder vielleicht gleichgültig dem Himmel zu. In dieser chronischen Unlust, mit der Pau’ura allem begegnete, lag etwas Geheimnisvolles, Hermetisches, das ihn anzog. Er blieb jäh stehen, trat zu ihr und beobachtete sie eine Weile. Ein seltsames Gefühl, eine Vorahnung erfaßte dich.
Was du da sahst, das war es, was du malen mußtest, Koke. Jetzt sofort. Ohne etwas zu sagen, ging er ins Atelier, nahm das Skizzenheft und ein paar Kohlestifte, kehrte ins Schlafzimmer zurück und ließ sich auf der Strohmatte nieder, Pau’ura gegenüber. Sie rührte sich nicht und stellte ihm keine Fragen, während er mit sicherem Strich zwei, drei, vier Skizzen des liegenden Mädchens machte. Pau’ura schloß ab und zu
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