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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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deiner Willenskraft nicht gewachsen. Warst du denn so alt? Mit einundvierzig Jahren war ein Mensch doch voller Leben. Wie hatte sich dein körperlicher Zustand verschlechtert, Andalusierin. Vor nur elf Jahren hattest du diese schreckliche Reise von Frankreich nach Valparaíso, dann die Strecke von Valparaíso nach Islay und schließlich den Überfall der Läuse, die dich eine ganze Nacht zerstachen, so gut verkraftet. Was für einen Empfang hatte Peru dir bereitet!
    Islay: eine einzige kleine Straße mit Bambushütten, ein Strand mit schwarzem Sand und ein Hafen ohne Pier, wo die Passagiere wie die Gepäckstücke und die Tiere ausgeschifft wurden, indem man sie mit Seilwinden vom Schiffsdeck auf große Holzbarkassen hinabließ. Die Ankunft der französischen Nichte des mächtigen Don Pío Tristán verursachte Aufsehen in der kleinen Hafenstadt mit ihren tausend Seelen. Diesem Umstand verdanktest du, daß man dich im besten Haus des Ortes, bei Don Justo, dem Postdirektor, unterbrachte. Das beste, aber deshalb nicht frei von Läusen, die in Islay ungehindert ihr Unwesen trieben. Am zweiten Abend, als die Ehefrau Don Justos sah, daß du von Kopf bis Fuß zerstochen warst und dich unaufhörlich kratztest, gab sie dir ihr Rezept, um schlafen zu können: fünf Stühle in einer Reihe, der letzte berührte das Bett. Amersten Stuhl solltest du dich des Kleides entledigen und es von der Sklavin mitsamt seinen Läusen fortschaffen lassen. Am zweiten Stuhl die Unterkleider ausziehen und dir die bloßen Körperteile mit einer Mischung aus lauem Wasser und Kölnischwasser einreiben, um die auf der Haut klebenden Läuse abzustreifen. Dann an jedem Stuhl ein weiteres Kleidungsstück ablegen, gefolgt von den jeweiligen Einreibungen der befreiten Körperteile, bis zum fünften, wo dich ein mit Kölnischwasser getränktes Nachthemd erwartete, das, solange der Duft nicht verflog, das Ungeziefer in Schach halten würde. Auf diese Weise könntest du Schlaf finden. Zwei oder drei Stunden später würden die Läuse mit frischem Mut abermals attackieren, aber dann würdest du schon schlafen und sie mit ein wenig Glück und ein wenig Gewöhnung nicht spüren.
    Das war die erste Lektion, Florita, die dir das Land deines Vaters und Don Píos erteilte, das Land deiner großen väterlichen Familie, das du mit der Hoffnung erkunden wolltest, etwas vom Erbe Don Marianos zu erhalten. In diesem Land solltest du ein Jahr verbringen, hier solltest du den Überfluß entdecken und was es bedeutete, im Schoß einer fast schon irreal anmutenden Familie voll Dünkel und ohne Geldsorgen zu leben.
    Wie stark und gesund warst du damals mit deinen dreißig Jahren, Andalusierin. Sonst hättest du diese vierzig Stunden zu Pferde, die Anden hinauf und durch die Wüste, zwischen Islay und Arequipa, nicht überstanden. Vom Ufer des Meeres bis zu einer Höhe von zweitausendsechshundert Metern, durch Schluchten und über steile Berge – die Wolken lagen dir zu Füßen –, während die Tiere schwitzten und wieherten, von der Anstrengung erschöpft. Auf die Kälte der Berggipfel folgte die Hitze einer endlosen Einöde ohne Bäume, ohne einen einzigen grünen Schatten, ohne einen Bach oder Brunnen, voll ausgeglühter Steine und Sanddünen, auf denen ihnen plötzlich der Tod in Form von Rinder-, Esel- und Pferdeskeletten entgegentrat. Eine Einöde ohne Vögel, Schlangen oder Füchse,ohne lebende Wesen irgendeiner Art. Zur Qual des Durstes gesellte sich die der Ungewißheit. Du allein inmitten der fünfzehn Männer der Karawane, die dich alle mit unverhohlenem Begehren anschauten: ein Arzt, zwei Händler, der Führer und elf Maultiertreiber. Würdest du Arequipa erreichen? Würdest du überleben?
    Du hattest Arequipa erreicht, und du hattest überlebt. In deiner jetzigen körperlichen Verfassung wärst du in dieser Wüste gestorben, und man hätte dich begraben wie jenen Studenten, dessen Grab mit dem groben Holzkreuz in den zwei Tagen, die sie brauchten, um diese Mondlandschaft zwischen dem Hafen Islay und den majestätischen Vulkanen der Weißen Stadt zu durchqueren, das einzige Zeichen menschlicher Anwesenheit war.
    Weil sie sich so unwohl fühlte, verlor sie in Marseille rasch die Geduld, wenn die Arbeiter, die zu ihr in die Herberge der Spanier kamen, bei den Versammlungen dumme Fragen stellten. Verglichen mit den Arbeitern in Lyon, lebten sie in Marseille in der Steinzeit, waren ungebildet, ungeschlacht, ohne die geringste Neugier für die soziale Frage. Sie

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