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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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hörten ihr gleichgültig, gähnend zu, als sie ihnen erklärte, daß sie dank der Arbeiterunion eine sichere Arbeit haben würden und ihren Kindern eine ebenso gute Erziehung geben könnten, wie sie die Bürger den ihren gaben. Was Flora am meisten irritierte, war die argwöhnische Ungläubigkeit, ja offene Feindseligkeit, mit der sie ihr zuhörten, wenn sie gegen das Geld wetterte und sagte, mit der Revolution werde der Handel verschwinden und Männer und Frauen würden wie in den urchristlichen Gemeinschaften nicht aus materiellem Anreiz, sondern aus Altruismus arbeiten, um die eigenen und die fremden Bedürfnisse zu befriedigen. Und alle würden in dieser künftigen Welt ein einfaches Leben ohne schwarze und weiße Sklaven führen. Und kein Mann hätte eine Geliebte oder wäre Bigamist oder polygam, wie so viele Männer in Marseille.
    Ihre Streitreden gegen das Geld und den Handel erschrecktendie Arbeiter. Sie las es in ihren verstörten, ablehnenden Gesichtern. Und es erschien ihnen absurd, daß Flora es als unbillig, als schändlich ansah, wenn Männer Geliebte hatten, zu Prostituierten gingen oder einen Harem unterhielten wie ein türkischer Pascha. Einer von ihnen wagte es ihr zu sagen:
    »Vielleicht verstehen Sie die Bedürfnisse der Männer nicht, Madame, weil Sie eine Frau sind. Ihr Frauen seid glücklich, wenn ihr einen Ehemann habt. Das ist für euch mehr als genug. Aber für uns ist eine einzige Frau das ganze Leben lang eintönig. Vielleicht ist Ihnen das nicht klar, aber Männer und Frauen sind da sehr verschieden. Das sagt sogar die Bibel.«
    Dir wurde schwindlig, wenn du solche Gemeinplätze hörtest, Florita. Nirgendwo sonst hattest du wie in dieser Stadt opulenter Kaufleute eine so zynische Zurschaustellung der Wollust und der sexuellen Ausbeutung gesehen. Oder so viele Prostituierte, die ähnlich dreist nach Kunden suchten. Deine Versuche, mit den Straßendirnen in den nah am Hafen gelegenen Gäßchen voller kleiner Lokale und Bordelle zu sprechen – die weniger schäbig waren als die in London, das mußtest du zugeben –, gerieten zum Fiasko. Viele verstanden dich nicht, denn es waren Algerierinnen, Griechinnen, Türkinnen oder Genovesinnen, die kaum mehr als ein paar Worte Französisch radebrechten. Alle wandten sich erschrocken von dir ab, weil sie fürchteten, du könntest eine religiöse Predigerin oder eine Vertreterin der Behörden sein. Du hättest dich als Mann verkleiden müssen, wie in England, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Du glaubtest zu träumen, wenn du bei Treffen mit Pressevertretern, mit Angehörigen gehobener Berufe, die Sympathien für Fourier, Saint-Simon oder die Ikarier an den Tag legten, oder auch mit gewöhnlichen Arbeitern hören mußtest, wie mit aller Unbefangenheit und Bewunderung über die Bankiers, Reeder, Schiffsmakler und Kaufleute gesprochen wurde, die sich Geliebte hielten, über die Wohnungen, die sie ihnen einrichteten, über die Kleider undSchmuckstücke, mit denen sie sie ausstaffierten, und darüber, wie sie sie verwöhnten: »Wie gut Monsieur Laferrière für seine Geliebten sorgt«, »Keiner behandelt sie besser als er, er ist ein großer Herr«. Was für eine Revolution konnte man mit solchen Leuten machen?
    In ihrer Zurschaustellung von Macht und Reichtum glichen diese Händler nicht den Reichen in Paris oder in London, sondern denen im fernen Arequipa. Denn Flora hatte zum ersten Mal verstanden, was Begriffe wie »Privileg«, wie »Reichtum« in ihrer ganzen schwindelerregenden Dimension bedeuteten, als ihr nach ihrem Ritt von Islay her Dutzende von Personen entgegengeritten kamen, die alle nach der Pariser Mode gekleidet und fast alle Blutsverwandte oder angeheiratete Verwandte von ihr waren – die großen Familien Arequipas hatten biblische Ausmaße und waren alle miteinander verwandt –, um sie auf der Höhe von Tiabaya willkommen zu heißen. Sie geleiteten sie zum Haus von Don Pío Tristán, in der Calle Santo Domingo, im Herzen der Stadt. Wie ein Traumbild erschien ihr in der Erinnerung dieser triumphale Einzug in das Land ihres Vaters: das Grün und die Lieblichkeit des vom Chili-Fluß bewässerten Tals, die Herden der Lamas mit ihren steifen Ohren und die drei prachtvollen, schneebedeckten Vulkane, zu deren Füßen sich die kleinen, aus weißem Vulkangestein gebauten Häuser dieser dreißigtausend Seelen zählenden Stadt ausbreiteten. Peru war seit einigen Jahren Republik, doch alles in dieser Stadt, wo die Weißen sich als Adlige ausgaben

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