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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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ihre Versammlungen mit den Arbeitern gerechnet hatte, war nach Algier gereist, nicht ohne ihr eine Nachricht zu hinterlassen: Er sei erschöpft, und seine Nerven und Muskeln brauchten Ruhe und Erholung. Was konnte man von den Dichtern erwarten, auch wenn sie Arbeiter waren? Auch sie waren Monstren an Egoismus, blind und taub für das Schicksal des Mitmenschen, jeder ein Narziß im Banne des Leids, das er sich erfand, um es besingen zu können. Vielleicht solltest du darüber nachdenken, Andalusierin, ob man in der künftigen Arbeiterunion außer dem Geld auch die Dichter verbieten sollte, wie Plato es in seiner Republik getan hatte.
    Zu allem Überdruß verschlimmerten sich seit dem ersten Tag in Marseille ihre Leiden. Besonders die Kolitis. Kaum aß sie etwas, blähte sich ihr Magen auf, und die Krämpfe waren so heftig, daß sie sich vor Schmerzen krümmte. Entschlossen, sich nicht geschlagen zu geben, setzte sie ihre Besuche und Versammlungen fort, entschied jedoch, nichts zu essen außer Säuglingsbrei oder faden Brühen, die ihr geschundener Magen behalten konnte.
    Am zweiten Tag in Marseille, nach einer Versammlung mit einer Gruppe von Schustern, Bäckern und Schneidern, die zwei Friseure und Fourier-Anhänger organisiert hatten, denen sie auf Empfehlung von Victor Considérant aus Paris geschrieben hatte, erlebte sie einen unangenehmen Zwischenfall im Hafen, wo sie Zeugin eines Vorgangs wurde, der ihr das Blut zum Sieden brachte. Sie beobachtete vom Hafendamm aus, wie die Ladung eines kürzlich eingelaufenen Schiffes gelöscht wurde. Hier konnte sie mit eigenen Augen sehen, wie das System der »weißen Sklaven« funktionierte, über das man sie gerade in der Versammlung informiert hatte. »Die Stauer werden nicht zu Ihnen kommen,Madame«, hatte man ihr gesagt. »Die behandeln die Armen am allerschlimmsten.« Sie besaßen einen Bestallungsbrief, der nur ihnen das Recht gab, in den Ladeluken der Schiffe zu arbeiten, die Waren zu laden oder auszuladen und den Passagieren mit dem Gepäck zu helfen. Viele zogen es vor, ihre Arbeit den Genuesen, Türken oder Griechen unterzuvermieten, die sich gegenüber dem Anlegeplatz drängten und mit Gesten und Rufen darum flehten, herbeigerufen zu werden. Die Stauer erhielten pro Ladung einen guten Lohn, anderthalb Francs, und gaben dem Mietarbeiter fünfzig Centimes, womit sie sich, ohne einen Finger zu rühren, einen Franc Kommission in die Tasche steckten. Flora geriet außer sich, als sie mitansehen mußte, wie einer der Stauer einen riesigen Koffer – fast eine Truhe – einer Genuesin überließ, die groß und stark war, aber hochschwanger. Gebückt, mit ihrer Last auf dem Rücken, bewegte sich die Frau schnaufend, mit von der Anstrengung hochrotem Gesicht und schweißüberströmt, auf die Kutsche der Passagiere zu. Der Stauer reichte ihr fünfundzwanzig Centimes. Und als sie in ungehobeltem Französisch die restlichen fünfundzwanzig Centimes von ihm forderte, drohte er ihr und beschimpfte sie.
    Flora trat dem Stauer entgegen, als dieser in einer Gruppe von Gefährten zum Schiff zurückkehrte.
    »Weißt du, was du bist, du Unglückseliger?« sagte sie, außer sich. »Ein Verräter und ein Feigling. Schämst du dich nicht, diese arme Frau so zu behandeln, wie die Ausbeuter dich und deine Brüder behandeln?«
    Der Mann schaute sie verständnislos an und fragte sich bestimmt, ob er es mit einer Geisteskranken zu tun hatte. Schließlich sagte er unter dem Gelächter und Gejohle der Umstehenden, wobei er eine beleidigte Miene aufsetzte:
    »Wer sind Sie? Wer hat Ihnen erlaubt, von mir Rechenschaft zu fordern?«
    »Ich heiße Flora Tristan«, sagte sie zornig. »Behalten Sie meinen Namen. Flora Tristan. Ich widme mein Leben dem Kampf gegen die Ungerechtigkeiten, unter denen die Armenleiden. Nicht einmal die Bürger sind so verachtenswert wie Arbeiter, die andere Arbeiter ausbeuten.«
    Die Augen des Mannes – er war stark, finster, dickbäuchig und krummbeinig – blitzten empört auf.
    »Werd Hure, da wird’s dir bessergehen«, rief er aus, während er sich entfernte und eine spöttische Geste in Richtung der Gaffer auf dem Hafendamm machte.
    Als Flora die Pension erreichte, hatte sie Schüttelfrost und hohes Fieber. Sie aß einige Löffel Brühe und legte sich ins Bett. Obwohl sie sich gut zugedeckt hatte und es Hochsommer war, fror sie. Stundenlang konnte sie kein Auge zutun. Ach, Florita, dein vermaledeiter Körper war deinen Sorgen, Verpflichtungen und Plänen, war

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