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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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und davon träumten, es zu sein, verriet die Kolonialzeit. Eine Stadt voller Kirchen, Konvente und Klöster, voller barfüßiger Indios und Neger, durchzogen von schnurgeraden, mit schartigen Steinen gepflasterten Straßen, in deren Mitte ein Wassergraben verlief, in den die Leute ihren Abfall warfen, die Armen ihre Notdurft verrichteten und aus dem die Lasttiere, Hunde und Straßenkinder tranken, eine Stadt, in der sich zwischen elenden Behausungen und Hütten aus Brettern und Stroh plötzlich wie majestätische Paläste die Häuser der großen Familienerhoben. Das von Don Pío war eines davon. Er selbst befand sich nicht in Arequipa, sondern auf seinen Zuckerplantagen in Camaná, doch das große Herrenhaus mit der weißen Fassade aus Vulkangestein erwartete Flora festlich geschmückt und inmitten eines ohrenbetäubenden Feuerwerks. Der große Eingangshof wurde von Fackeln aus Harz erleuchtet, und die gesamte Dienerschaft – Domestiken und Sklaven – hatte dort Aufstellung genommen, um sie willkommen zu heißen. Eine Frau mit Mantille, die Hände voller Ringe und den Hals voller Ketten, umarmte sie: »Ich bin deine Kusine Carmen de Piérola, Florita, willkommen in deinem Zuhause.« Du trautest deinen Augen nicht; du fühltest dich wie eine Bettle-rin in diesem ganzen Luxus. Im großen Empfangssalon herrschte blendende Helligkeit; außer dem riesigen Lüster aus Bergkristall standen, überall verteilt, Kandelaber mit vielfarbigen Kerzen. Benommen gingst du von einer Person zur anderen, mit ausgestreckter Hand. Die Herren küßten sie dir unter galanten Verbeugungen, und die Frauen umarmten dich nach spanischer Sitte. Viele sprachen dich auf französisch an, und alle fragten dich nach einem Frankreich, das du nicht kanntest, dem Frankreich der Theater, der Modegeschäfte, der Pferderennen, der Opernbälle. Es gab auch mehrere Dominikanermönche in weißen Kutten, die der Familie Tristán zugeteilt waren – das reine Mittelalter, Florita! –, und mitten im Trubel des Empfangs bat der Prior plötzlich um Ruhe, um einige Grußworte an die soeben Eingetroffene zu richten und vom Himmel Segen für ihren Aufenthalt in Arequipa zu erbitten. Die Kusine Carmen hatte ein Abendessen vorbereitet. Doch du, halbtot vor Müdigkeit durch die Reise, durch das Neue und die Aufregung, batest um Entschuldigung: Du warst erschöpft und wolltest ausruhen.
    Die Kusine Carmen – herzlich, überschwenglich, halslos und mit pockennarbigem Gesicht – begleitete dich in deine Gemächer, in einem hinteren Flügel des Hauses: ein großes Ankleidezimmer und ein Schlafzimmer mit hoher,gewölbter Decke. An der Tür zeigte sie auf eine kleine Negerin mit lebhaften Augen, die sie erwartete, reglos wie eine Statue:
    »Diese Sklavin ist für dich, Florita. Sie hat dir ein Bad mit lauem Wasser und Milch vorbereitet, damit du erfrischt zu Bett gehen kannst.«
    Wie die Reichen in Arequipa schienen auch die Kaufleute in Marseille nicht zu merken, wie obszön das Schauspiel des Überflusses inmitten der Armut war. Freilich waren die Armen in Marseille reich im Vergleich zu den kleinen, in ihre Ponchos gehüllten Indios, die an den Kirchenportalen Arequipas bettelten, wo sie ihre blinden Augen oder ihre verkrüppelten Glieder vorzeigten, um Mitleid zu erregen, oder neben ihren Lamas einhertrotteten und ihre Produkte zum samstäglichen Markt unter den Säulengängen der Plaza de Armas brachten. Doch auch hier in Marseille gab es viele Bedürftige; es waren fast alle Einwanderer, die aus ebendiesem Grund in den Werkstätten, im Hafen und auf den Landgütern der Umgebung ausgebeutet wurden.
    Sie war noch nicht eine Woche in Marseille und hatte trotz ihres schlechten Befindens schon einige Versammlungen abgehalten und etwa ein halbes Hundert Exemplare von L’Union Ouvrière verkauft, als sie ein Erlebnis hatte, an das sie später manchmal lachend, manchmal empört zurückdenken sollte. Eine Frau, die nur ihren Vornamen, nicht ihren Familiennamen hinterlassen hatte, war mehrere Male auf der Suche nach ihr zur Herberge der Spanier gekommen. Beim vierten oder fünften Mal traf sie Flora an. Es war eine alterslose Frau, die auf dem linken Fuß hinkte. Trotz der Hitze war sie dunkel gekleidet, trug ein Tuch, das ihr Haar bedeckte, und am Arm eine große Tasche aus Tuch. Sie bestand so sehr darauf, unter vier Augen mit ihr zu sprechen, daß Flora sie in ihr Zimmer treten ließ. Madame Victoire mußte Italienerin oder Spanierin sein, ihres Akzents wegen, obwohl

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