Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
Knöchel. Der Apotheker in Papeete weigerte sich, ihm weiterhin Laudanum ohne ärztliches Rezept zu verkaufen. Mit hängendem Kopf, zutiefst gedemütigt, mußte er sich ins Hospital Vaiami bringen lassen. Dort weigerte man sich, ihn aufzunehmen, wenn er nicht zuvor bezahlte, was er damals bei seiner Flucht aus dem Fenster schuldig geblieben war. Er mußte außerdem eine Anzahlung leisten als Sicherheit dafür, daß er die Rechnung dieses Mal begleichen würde.
    Er blieb acht Tage im Krankenhaus. Doktor Lagrange fand sich bereit, ihm abermals Laudanum zu verschreiben, machte ihn jedoch darauf aufmerksam, daß er nicht länger Mißbrauch mit diesem Betäubungsmittel betreiben dürfe, das zu einem guten Teil schuld sei an seinem Gedächtnisverlust und an den Phasen geistiger Verwirrung – wenn er nicht wußte, wer er war, wo er war und wohin er ging –, über die er jetzt klage. Als der Arzt umständlich, um seine Empfindlichkeit nicht zu verletzen, anzudeuten wagte, ob es angesichts seines Gesundheitszustandes nicht besser für ihn sei, eine Rückkehr nach Frankreich, seinem Heimatland, zu erwägen, zu den Seinen, Menschen seiner Sprache, seines Blutes und seiner Rasse, um in ihrem Kreis seine letzten Jahre zu verbringen – sie würden sehr schlimm sein, das mußte er wissen –, erhob Paul die Stimme:
    »Meine Sprache, mein Blut und meine Rasse sind hier, in Tahiti-nui, Doktor. Ich werde keinen Fuß mehr nach Frankreich setzen, ein Land, dem ich nur Niederlagen und Mißhelligkeiten verdanke.«
    Er verließ die Klinik mit unverheilten Wunden an den Beinen und ohne daß die Schmerzen im Knöchel nachgelassen hätten. Doch das Laudanum schützte ihn gegen das Brennen und gegen die Verzweiflung. Es war eine ganzeigene Erfahrung, sich allmählich von der Umgebung zu lösen, in ein Reich reiner Empfindungen, aufscheinender Bilder, zerfaserter Phantasien einzutauchen, das ihn vom Schmerz und vom Ekel der Gewißheit befreite, daß er bei lebendigem Leib verfaulte, daß diese Wunden an den Beinen, deren Gestank durch die mit Salbe getränkten Verbände drang, seine Sünden, all das Schmutzige, Niedrige, Schlechte seines ganzen Lebens offenbarten. Ein Leben, das anscheinend nicht mehr lange dauern würde, Paul. Würdest du sterben, bevor du die Marquesas erreicht hättest?
    Am 19. April 1898 wurde das Kind von Koke und Pau’ura geboren, ein gesunder Junge mit gutem Gewicht, dem sie in einer gemeinsamen Entscheidung den Namen Emile gaben.

XI

Arequipa
Marseille, Juli 1844
    Es gibt Städte, die man verabscheut, ohne sie zu kennen, dachte Flora, kaum daß sie aus dem coupé gestiegen war, in dem sie in Gesellschaft eines Priesters und eines Kaufmanns aus Avignon angereist war. Sie betrachtete voll Mißfallen die Häuser von Marseille. Warum dieser Haß auf eine Stadt, die du noch gar nicht gesehen hattest, Florita? Später sollte sie sich sagen, daß es an ihrem Wohlstand lag: Es gab zu viele Reiche und wohlhabende Leute in diesem kleinen Babylon aus Glückssuchern und habgierigen Einwanderern. Die fiebrige Handelstätigkeit und das Übermaß der Reichtümer hatten ihren Bewohnern ein Gewinnstreben und einen brutalen Individualismus eingeimpft, der sogar auf die Armen und Ausgebeuteten abgefärbt hatte, unter denen sie ebenfalls nicht den geringsten Ansatz von Solidarität fand, vielmehr eine steinharte Gleichgültigkeit gegenüber den Ideen der Arbeiterunion und der universellen Brüderlichkeit, die sie ihnen nahebringen wollte. Verfluchte Stadt, in der die Menschen nur an den Profit dachten! Das Geld war das Gift der Gesellschaft; es verdarb alles und machte den Menschen zu einer gierigen, räuberischen Bestie.
    Als wollte Marseille ihr Gründe liefern, die ihre Abneigung rechtfertigten, ging alles schief, seitdem sie die Stadt betreten hatte. Das Hôtel Montmorency erwies sich als fürchterlich und von Läusen infiziert, die sie an ihre Ankunft im September 1833 in Peru, im Hafen von Islay, erinnerten, wo sie in der ersten Nacht im Haus von Don Justo, dem Postdirektor, geglaubt hatte, an den Stichen dieses Ungeziefers zu sterben, das sich erbarmungslos über sie hermachte. Am nächsten Tag floh sie in eine Herberge imZentrum von Marseille, die von einer spanischen Familie geführt wurde; man gab ihr ein einfaches, weiträumiges Zimmer und hatte nichts dagegen einzuwenden, daß sie dort Gruppen von Arbeitern empfing. Der Dichter-Maurer Charles Poncy, Verfasser der Hymne an die Arbeiterunion, auf dessen Beistand Flora für

Weitere Kostenlose Bücher