Das Paradies ist weiblich
mehrere Boote samt »Besatzung«. Schließlich
konzentriere ich mich auf die Details: eine sitzende Frau, die ein Bein aus dem Boot hängen lässt. Sie winkt jemandem am Ufer
zu. Er steigt ein. Sie löst das Tau, stößt den Kahn ab, er entschwindet meinem Blickfeld.
In einem anderen Boot ist eine Frau mit Putzarbeiten beschäftigt. Sie schafft eimerweise Wasser aus dem Kahn und schrubbt
und schrubbt. Ich |104| drücke ab. Hinter meiner Kamera fühle ich mich manchmal wie ein Heckenschütze.
Die übrigen Boote sind in männlicher Hand. Von Aktivität keine Spur. Einer erledigt seinen Job in der Horizontalen, er hat
sich für ein Nickerchen auf den Sitzbänken entschieden, den Hut über die Augen gezogen, die Arme vor der Brust gekreuzt. Seine
Stiefel hat er ausgezogen und präsentiert der Welt seine himmelblauen Socken. Ich drücke wieder ab.
Der Kollege im Nachbarboot liest eine Zeitschrift. Der Bericht muss besonders interessant sein, denn der Ruderer bemerkt nicht,
dass er vom Ufer abgetrieben ist. Ich bin irritiert, denn der Kerl blättert gar nicht um. Ich fotografiere auch ihn. Als die
Strömung das Boot wendet, sehe ich, dass auch er schläft.
Am Anlegesteg hocken sechs Männer mit Hut und Zigarette nebeneinander, die aus der Ferne vollkommen identisch aussehen: gleiches
Alter, gleiche Statur, gleiche Kleidung und gleiche Haltung – als reproduzierte man mit Hilfe einander gegenüberstehender
Spiegel immer wieder dasselbe Bild.
Unter einem Baum entdecke ich ein Grüppchen von vier Männern und zwei Frauen. Die Frauen flicken Kleidungsstücke, ihre Bewegungen
sind so |105| flink, dass es aussieht, als tanzten die Nadeln ein wildes Menuett mit den Fingern. Die Männer liegen auf ihren Jacken und
dösen. Wahrscheinlich erforschen sie andere Dimensionen. Nur einer wälzt sich unruhig hin und her. Muss am Stress liegen.
Zwei Frauen kommen die Straße entlang, sie transportieren Holz in einer Art Rucksack aus Weidengeflecht, der zusätzlich mit
einem Gurt am Kopf gesichert ist. Wie ein langes Haarband liegt der Gurt über der Stirn. Sie grüßen mich mit einem Kopfnicken,
ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Ihre Last muss doppelt so schwer sein wie sie selbst.
Ich verstaue meine Fotoausrüstung und rufe Lei, der rauchend am Ufer steht. Ich möchte mit den Interviews fortfahren, am liebsten
würde ich die müden Bootsführer befragen. Ihre Kollegin scheint meinen Gedanken zu erraten und rüttelt einen von ihnen wach,
bevor sie selbst mit einem Fahrgast davonrudert.
Allgemeines Gähnen. Der eine ist überrascht, als Lei ihm mein Anliegen vorträgt, lächelt aber zustimmend.
»Ich heiße Yanduchie und bin vierzig Jahre alt. Ich bin für das Boot meiner Familie verantwortlich. Ich bringe die Fahrgäste
ans andere Seeufer«, stellt er sich vor meiner laufenden Videokamera vor.
|106| »Gibt es viel zu tun?«
»Ja.«
»Bei wem wohnen Sie?«
»Bei meiner Mutter. Wir sind eine große Familie, sechsunddreißig Leute.«
»Leben Sie alle zusammen?«
»Ja, klar. Meine Mutter, meine Großmutter, Onkel und Tanten, meine Geschwister und meine Nichten und Neffen.«
»Welche Rolle hat der Mann in einer Gesellschaft wie dieser?«
»Der Mann hat eine große Verantwortung, weil er Geld verdienen muss und zum Unterhalt der Familie beiträgt.«
»Arbeiten die Männer hier hart?«
»Ja, ich weiß, es heißt, der Mosuo-Mann sei faul, aber sowohl Männer als auch Frauen haben die Verpflichtung zu arbeiten.
Ich würde behaupten, die Verantwortung des Mannes ist ein wenig größer.«
Mein Eindruck ist ein anderer. Wie es einer Gemeinschaft von Müttern entspricht, werden die Männer wie Kinder behandelt. Ich
frage mich, ob das nicht Einfluss auf die erotische Anziehungskraft dieser Männer hat. Die Frauen verhalten sich wie verantwortungsvolle
Erwachsene, sie nehmen ihre Arbeit ernst. Der Mann hingegen erhält Befehle, |107| er wird gescholten, und man lässt ihn gewähren. Der Mosuo-Mann verbringt viel Zeit mit seinen Freunden, fühlt sich für nichts
verantwortlich, wechselt ständig die Geliebte und wohnt das ganze Leben bei seiner Mutter.
Es mag vorkommen, dass ein Patriarch von seinem Thron aus auf den Besitz, der ihn umgibt, hinabschaut. Die Matriarchin hingegen
ist immer mitten im Geschehen. An den Ufern des Lugu wird man nicht erleben, dass eine Frau einen Mann um ein Glas Wasser
bittet.
Der Bootsführer, der über seiner Zeitschrift eingeschlummert war, ist
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