Das Paradies ist weiblich
plötzlich hellwach und unterstreicht alles, was sein
Kollege sagt, mit einem nachdrücklichen Nicken.
»Wie sah Ihre Kindheit aus?«
»Ich war nicht sehr gut in der Schule, deshalb haben sie mich irgendwann heruntergenommen.«
»Ist es üblich, dass man ein Kind von der Schule nimmt?«
»Jetzt kommt das nicht mehr so oft vor, aber früher schon. Wenn da ein Junge nicht gut in der Schule war und sich nicht anstrengte,
nahm die Familie ihn sofort aus der Klasse.«
»Und die Mädchen?«
»Die Mädchen nie, die waren immer wissbegierig.«
|108| Ein junger Mann, den ich nie zuvor gesehen habe, hockt sich im Schneidersitz und mit gesenktem Kopf neben uns. Immer wenn
ich etwas frage, hebt er interessiert den Blick.
»Wer hat früher auf Sie aufgepasst?«
»Mein Onkel. Mit ihm habe ich viel Zeit verbracht.«
»Und Ihre Mutter?«
»Die war die meiste Zeit auf dem Feld.«
Der junge Mann im Schneidersitz möchte etwas einwerfen, doch Lei gibt ihm ein Zeichen, dass er sich gedulden möge.
»Haben Sie eine feste Beziehung?«
»Nein, im Augenblick nicht, aber hier ist es nicht schwierig, eine Frau für die Nacht zu bekommen.«
Der im Schneidersitz lässt nicht locker, er will unbedingt etwas loswerden, aber Lei beschwichtigt ihn erneut.
»Was ist los, Lei?«
»Er fragt, ob das Interview im Fernsehen kommt oder veröffentlicht wird.«
»Sag ihm, ich glaube nicht, dass es im Fernsehen kommt, aber ich hoffe, dass es veröffentlicht wird.«
Lei übersetzt, und sogleich erhebt sich Alatashi – so heißt der junge Mann – und gestikuliert herum. Er will auch etwas ins
Mikrofon sagen (man hatte mir zur Verbesserung der Tonqualität vor meiner |109| Abreise zu einem externen Mikrofon geraten). Als ich es ihm gebe, beruhigt er sich und setzt sich wieder hin.
Das Mikrofon in der Hand, schaut er mit ernster Miene in die Kamera. Ein schmächtiger Kerl mit großen Händen. Er unterscheidet
sich von den anderen Männern im Dorf vor allem durch seine Art zu reden, sie ist besonnener, bestimmter.
»Man soll wissen, dass wir zu unserer Lebensform stehen«, sagt er.
»Was meinen Sie damit?«
»Dass die Frauen hier das Sagen haben, ist Teil unserer Kultur. Ebenso verhält es sich mit der Besuchsehe, unserer Form der
Beziehung zwischen Mann und Frau. So leben wir, seit es die Mosuo gibt, und das sollte respektiert werden.«
Das ist die erste politische Erklärung, die ich höre, seit ich in Luoshui angekommen bin. In keinem meiner Interviews hat
sich eine Frau in vergleichbarer Weise geäußert.
Alatashi fährt fort: »Die Han, unsere Nachbarn, leben anders, mehr im Sinne der übrigen Bevölkerung Chinas, aber wir sind
mit unserer Lebensform zufrieden. Minderheiten sollten respektiert werden. Wie Yanduchie, das Vizeoberhaupt, sagt: Auch wir
Männer haben unsere Verantwortungsbereiche.«
»Yanduchie ist das Vizeoberhaupt?«
|110| »Ja, und er hätte Ihnen das sagen und Ihnen erklären müssen, was wir wollen.«
Ich schaue Yanduchie an und frage ihn: »Sie sind der zweite Mann, der Stellvertreter von Lu Gu Pintsa?«
»Ja.«
»Und warum haben Sie das nicht gesagt?«
Er lächelt nur, und ich frage nicht weiter nach. Ich wende mich wieder Alatashi zu.
»Und was sind die Forderungen?«
»Wir möchten als Minderheit anerkannt werden. Wir sind der Ansicht, dass das Matriarchat uns kulturell von anderen Völkern
unterscheidet, und wir wollen mit unserer Lebensform respektiert werden.«
»Aber wer will Ihnen die Lebensform streitig machen?«
»Im Moment niemand, aber in der Vergangenheit hat die Zentralregierung das Militär hergeschickt, damit sie die Mosuo-Kultur
ausrotten. Sie haben die Leute gezwungen zu heiraten. Meine Mutter erzählt, das Heer habe bestimmt, wer mit wem zusammenleben
sollte, da die Mehrzahl der Ortsansässigen keinen festen Partner hatte. Was sich in den einzelnen Häusern abspielte, muss
unerträglich gewesen sein – eine Division der Roten Armee als Kupplerin!«
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Natürlich machten die Wechselfälle in der Geschichte Chinas auch vor den Mosuo nicht halt. Zur großen Freude der einen und
zur Besorgnis der anderen erklärte Mao Tse-tung am 1. Oktober 1949 den Sieg der Revolution. Worte, die das Ende eines langen
Kampfes markierten und die Geburtsstunde einer neuen Nation bedeuteten. Fortan schmückte Maos Profil die Reverskrägen, Mützen
und Hemden der Bauern, Arbeiter und Studenten. Man hoffte, die Ideologie der Bewegung würde sich ebenso rasch
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