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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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abzuschaffen, wurden die Mosuo unter Druck
     gesetzt, einer Familienform zu huldigen, die sie ablehnten.
    Der Glaube, man könne Überzeugungen per Dekret ausmerzen, das Gefühl würde sich schon einstellen, erzeugte ein Riesenchaos.
     Fassungslos wohnten die Mosuo ihrer Verehelichung bei. Doch das währte nur so lange, wie der Druck des Regimes anhielt. Als
     Maos Gesandte sich zurückzogen, kehrte jeder an seinen Platz zurück. Die Frauen bildeten wieder mit ihren Kindern den Haushalt,
     und die Männer gingen wieder zurück zu ihren Müttern. Den politischen Führungskadern war es nicht nur nicht gelungen, die
     Verhältnisse zu verändern, im Gegenteil. Viele Soldaten fühlten sich zu den Mosuo-Mädchen hingezogen und integrierten sich
     in das Matriarchat.
     
    Alatashi kommentiert die historischen Ereignisse so: »Sie bedrängten die Männer, die Finanzen in die Hand zu nehmen und über
     die Familie der Mutter ihrer Kinder zu bestimmen. Doch was hat ein Mann bei der Familie der Frau zu suchen, mit der er |116| Kinder hat? Warum sollten sie über die Frau herrschen? Warum wollte man uns zwingen, mit einem Fremden, einem Nicht-Blutsverwandten
     unter einem Dach zu leben? Keiner von uns hat das je gewollt. Und will es bis heute nicht.« Er hält inne. Dann fragt er mich:
     »Was denken Sie darüber? Sie leben ja in einem anderen System und können vergleichen.«
    Ich bin irritiert, Gespräche mit politischem Inhalt habe ich bisher hier nicht geführt. Und bei solchen Prinzipienfragen kann
     es schnell zu einem Konflikt kommen. Doch Alatashi lässt nicht locker und bittet Lei, die Frage zu wiederholen.
    Fünf Augenpaare starren mich gebannt an. Ich zögere. Aus irgendeinem Grund hat sich das Patriarchat fast überall auf der Welt
     durchgesetzt. Um ein Matriarchat zu finden, muss man an einen solch entlegenen Ort reisen. Doch dass ein System mehr Anhänger
     hat, heißt ja nicht, dass das andere nicht funktioniert. Das Patriarchat gehört schließlich nicht zum Wesen des Menschen,
     und die Gemeinschaft der Mosuo macht deutlich, dass es andere mögliche Lebensformen gibt, die nicht den Zerfall der Familie,
     das Ende der Gesellschaft und Gesetzlosigkeit bedeuten müssen. Im Gegenteil, im Matriarchat wirkt die Familie als Institution
     weitaus solider und vitaler, als ich sie in westlichen |117| Breiten wahrgenommen habe. Sie bedarf keines moralischen Diskurses, der sie aufrechterhält.
    Auch die Tatsache, dass im Matriarchat jede Form von Gewalt verpönt ist und man kein Interesse daran hat, möglichst große
     Summen von Geld anzuhäufen, macht das Leben umgänglicher und leichter.
    Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Menschheit durchaus unter der Ägide von Frauen leben konnte. Ob das nicht auch in
     der Zukunft denkbar ist?
    Gerade will ich anheben und sagen, das Mosuo-System sei für mich in weiten Teilen schwer nachzuvollziehen, schließlich würden
     wir so ganz anders leben. Doch dann sage ich nichts, ich fühle mich lächerlich. Das sind abgedroschene Phrasen, die wir, ohne
     nachzudenken, wiederholen, als hätten wir die Weisheit für uns gepachtet.
    Und ich frage mich: Sind die Unterschiede wirklich so groß?
    Gibt es nicht auch in meiner unmittelbaren Nachbarschaft Frauen, die selbst ihren Lebensunterhalt verdienen, auch ohne Ehemann
     Kinder bekommen oder ein Sozialleben haben? Leben nicht auch bei uns in vielen Haushalten Frauen allein mit ihren Kindern,
     vielleicht sogar mit der Großmutter zusammen?
    |118| Einen grundlegenden Unterschied gibt es allerdings. Die Mosuo-Frau lebt, wie sie lebt, und hat dabei das Gefühl, an ihrem
     Platz zu sein. Sie sehnt sich nicht danach, den Mann ihres Lebens kennenzulernen, mit dem sie ihr Glück vervollständigen kann.
     Das Leben ohne Partner in der Gesellschaft, wie ich sie kenne, scheint mir oft eher das Ergebnis von Resignation als von Überzeugung
     zu sein, und meist geht dem ein traumatisches Erlebnis voraus.
    Ich versuche auf ein anderes Thema umzuschwenken.
    »Außer der Familie – welche Themen beschäftigen Sie noch?«
    »Wir kümmern uns um die Umwelt. Sehen Sie sich den See an, er ist glasklar, und das soll er auch bleiben.«
    »Sie haben keine Probleme mit Umweltverschmutzung hier? Leitet wirklich kein Unternehmen giftige Abwässer in den See?«
    »Nein. So etwas gibt es hier nicht, dagegen würden wir auch protestieren.«
    Wir beenden das Gespräch an dieser Stelle, denn ich möchte noch andere Leute interviewen.
    »Übermorgen treffen wir
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