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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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durchsetzen,
     und hielt die Gelegenheit für gekommen, mit der Vergangenheit zu brechen und eine homogene Kultur zu schaffen.
    Als matriarchalische Gesellschaft waren die Mosuo der neuen Regierung ein Dorn im Auge: Sie führten ein aktives Liebesleben,
     die vielgepriesene Institution der Ehe ignorierten sie. Und dass die Figur des Vaters keinerlei Bedeutung hatte, durchkreuzte
     die Pläne, Mao zum Vater und Oberhaupt aller Chinesen zu erheben.
    |112| 1950, ein Jahr nach der historischen Erklärung auf dem Platz des Himmlischen Friedens, verurteilte die Regierung der Provinz
     Yunnan die Liebesbeziehungen der Mosuo als primitive Praxis, die nach der neuen Ordnung der Volksrepublik China illegal war.
     Es sei nicht zu dulden, dass die Männer, anstatt zu arbeiten und produktiv zu sein, lediglich auf ihr abendliches Stelldichein
     hinlebten. Das neue Regime war der Meinung, durch diese Praxis ginge dem Land Arbeitskraft verloren, die so dringend benötigt
     wurde, um die Wirtschaft anzukurbeln.
    Sechs Jahre später, während der Agrarreform, startete man einen ersten Anlauf, das Matriarchat auszurotten. Wenn die Männer
     sich bereit erklärten, sich von ihren Müttern zu trennen und eine eigene Familie zu gründen, so wie es im übrigen Land Usus
     sei, würden sie das Besitzrecht an dem Land erhalten, das sie bebauten. Tatsächlich jedoch gab es keinerlei Nachfrage nach
     Parzellen zu diesen Bedingungen, der Versuch, die Männer durch das Versprechen von Landbesitz dazu zu verführen, eine patriarchalische
     Gesellschaft aufzubauen, schlug fehl.
    1958, gleich nachdem der »Große Sprung nach vorn« als Parole ausgegeben war, schickten die Behörden die ersten Arbeitsbrigaden
     zu den Mosuo, um ein monogames sozialistisches System einzuführen. |113| Schluss mit der Libertinage: Kommt zur Vernunft und heiratet. Die Frage war nur, wer wen heiraten sollte.
    Die wenigen Paare, die dem Aufruf folgten, hatten große Schwierigkeiten im täglichen Zusammenleben. Wer in das Haus der Familie
     seines Partners zog, wurde dort als Eindringling betrachtet. Die Matriarchinnen waren die Ersten, die offen gegen den Appell
     zur Heirat protestierten. Sie wollten nicht zulassen, dass man ihnen die Töchter wegnahm, damit sie bei einem Fremden lebten.
     Und auch die jungen Mädchen verstanden nicht, warum sie ihre Mütter verlassen sollten, um bei einer anderen Familie zu wohnen.
    Man stelle sich vor, die Regierungen der westlichen Hemisphäre würden uns nötigen, den Partner nach zwanzig Jahren harmonischer
     Ehe zu verlassen, dem Vater jeglichen Kontakt zu den gemeinsamen Kindern zu versagen und wieder zu unseren Eltern zurückzukehren.
     Das wäre für uns sicher ein ebenso traumatisches Erlebnis, wie damals die geplante Einführung der Heirat eines für die Mosuo
     darstellte.
    1966 kam die Kulturrevolution und mit ihr der weitere Versuch, alte Zöpfe abzuschneiden. Im
Roten Buch
, der sogenannten Mao-Bibel, lässt Mao Tse-tung wissen:
    |114| »Die Männer Chinas werden gewöhnlich von drei systematisch gegliederten Gewalten beherrscht: erstens vom staatlichen System
     […] (politische Gewalt); zweitens vom Sippensystem […] (Sippengewalt); drittens vom übernatürlichen System […] (religiöse
     Gewalt). Die Frauen werden außer von diesen drei Gewaltensystemen auch noch von ihren Ehemännern beherrscht (Gattengewalt).
     Diese vier Gewalten – politische Gewalt, Sippengewalt, religiöse Gewalt und Gattengewalt – bilden die Verkörperung der Gesamtheit
     der feudalpatriarchalischen Ideologie und des feudalpatriarchalischen Systems; das sind die vier dicken Stricke, mit denen
     das chinesische Volk, insbesondere die Bauernschaft, gefesselt ist. […] Die politische Gewalt der Grundherren ist das Rückgrat
     aller anderen Gewaltensysteme. Sobald diese Gewalt gestürzt ist, beginnen auch die Gewalten der Sippe, der Religion und des
     Ehegatten zu wanken.«
    Und das, nachdem man Einheiten des Heeres entsandt hatte, um im Matriarchat die monogame Ehe durchzusetzen.
    Die politisch-militärischen Beauftragten entschieden, wer wen zu ehelichen hatte. Wer es wagte, das gemeinsame neue Heim zu
     verlassen, wurde ausgehungert, indem man ihm seine Ration Saatgut verweigerte. Systematisch diskrimierte man außereheliche |115| Kinder, indem man ihnen nicht dieselbe Menge an Nahrungsmitteln zukommen ließ wie den im Rahmen des neuen Gesetzes Geborenen.
     Das war paradox, denn während man in ganz China versuchte, die arrangierten Ehen
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